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Meinung

Kims Hexenapotheke
Für unsere Bergwerdung

«Der helvetische Körper ist einer, der sich am Berg herstellt»: Kim de l’Horizon.
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In den vergangenen Wochen kamen wir nicht um Odermatt herum, und auch nicht um den dazu geflüsterten Nationalstolz. «Wir» = Skivolk. Und dieses Wir trägt jede:n auf Händen, der es uns feelen lässt. Wieso eigentlich? Let’s talk about unseren Nationalsport. 

Anfang März, Kotzwetter. Ich begebe meinen Körper in ein Innerschweizer Skigebiet. Schnee? Ne. Als stünde ich am Strand, und wer hat das Meer geklaut. Alle Bahnen zu. Ich hatte gehofft, dass sie wenigstens die Kunstschneeteppiche über die braunen Matten ausgerollt hätten. Doch auch dafür ist es zu warm. Dann gebe ich mir das Skigebietsfeeling halt zu Fuss.

Ich gehe den Liftmasten entlang: Dem grätigen, aus dem rutschenden Boden ragenden Rückgrat unserer Alpenidentität. Ja, ich komme aus der Stadt, heute, aber mein Blick nicht, denn meine Hälfte ist aus Berg. Ich kenne die Falten des Gesteins, die abrupten Sonnenuntergänge. Die Moränen rufen mich. Ich war Teil eines Wirs, das winterlang von der Talabfahrt direkt ins Wohnzimmer skilen konnte. Wo ich herkomme, war die Skischule wichtiger als die normale. Mein Körper ist ein an Hängen gewachsener.

Wir fätzen auf kanonisiert gefrorenem Wasser runter und schreiben unseren friends DIE NATUR TUT SO GUT.

Robert Steiger von der Uni Innsbruck sagt voraus, dass um 2100 nur noch ein Drittel der Skigebiete schneesicher sein werden, wenn wir keinen Klimaschutz betreiben. Allerdings Obacht! Schneesicherheit schliesst Kunstschnee mit ein. Wir rattern also auf den Stahlmasten hoch und fätzen auf kanonisiert gefrorenem Wasser runter und schreiben unseren friends DIE NATUR TUT SO GUT. Weil dieser natürliche Fun jedoch sauteuer ist, hilft immer öfter die öffentliche Hand. Das macht «mit Blick in die Zukunft» «nicht wirklich Sinn». Wieso tun «wir» es trotzdem? Wieso ist uns dieser aussterbende Sport so wichtig? Weil die Menschen im Alpenraum die Alpen sind. Wir identifizieren uns, selbst wenn wir nur selten dorthin gehen, mit diesen Steinhaufen. 

Nomal: Wer ist dieses Wir? Patricia Purtschert filetiert uns in «Kolonialität und Geschlecht» sehr schön. Vor der Moderne waren die Berge unheimlich, gefährlich. Dämonen lebten auf ihnen, warfen mit Steinen, und kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, weiter zu klettern als nötig für das Vieh. Zahlreiche Kapellchen und Schreine zeugen noch heute vom grossen Schutzbedürfnis.

Es waren dann die reichen Briten, die nicht nur das aussereuropäische Exotische suchten, sondern im 19. Jahrhundert auch die Alpen als «playground of Europe» ernannten. Heda Stopp! Zur «Rückeroberung der Alpen von den Briten» wurde dann der SAC gegründet. Aber das Bergsteigen war kein Sport der Bergbevölkerung, (die sowieso keine «Freizeit» hatte), sondern des städtischen Industriebürgertums. Von den 35 Gründungsmitgliedern des SAC kamen 22 aus den Städten Basel, Bern und Zürich, und kein einziger war Bauer, Hotelier oder Arbeiter oder Nichtmann. Diese Mannen wollten sich die Wildheit vor der eigenen Haustür nicht von der grossen Kolonialmacht England fremdzähmen lassen. 

Nicht mehr Geister und Albe drohen UNS, sondern Mauergänge, Steinschläge; Folgen des auftauenden Permafrostes.

Auch die Figur des «Bergführers» wurde erst 1930, in der geistigen Landesverteidigung, zum Träger nationaler Identität/Männlichkeit. Der erste Skilift wurde übrigens 1908 nicht bei uns, sondern im Schwarzwald durch Wasserkraft in Betrieb genommen. Dass WIR uns die Alpen als wichtigen Volksseelenanteil annähten, ist also not that long ago. Und nun bröckelt die ganze Chose, unser Matterhorn, der Mont Blanc. Nicht mehr Geister und Albe drohen UNS, sondern Mauergänge, Steinschläge; Folgen des auftauenden Permafrostes.

So, my dears. In den letzten 150 Jahren haben WIR die Berge benutzt, um besser im Menschsein zu werden: fitter, erholter, ausdauernder, wurzelverbundener. Der helvetische Körper ist einer, der sich am Berg herstellt. Ob wandernd, skilend, aprèsskilend, seinen Käse fressend, oder auch nur den «Anderen» davon erzählend. Und das wollen wir uns auch nicht nehmen lassen, bloss wegen ein paar Bergstürzen!

Lasst uns einen neuen Nationalsport erfinden: die Bergwerdung! Wir wollen nicht mehr fittere Menschen werden, sondern rechte Alpenböcke! Die Stadtmenschen sollen nicht mehr zur hohlen Erholung die Hänge runterbrettern, sondern von den Bergmenschen herbeigepfiffen werden, wenn diese sie brauchen – denn es stehen zukünftig immer mehr Arbeiten an. Die Gofen sollen Bergferien kriegen, nicht für die Skischule oder Klettertechnik, sondern zum Ausmisten, Dämme bauen gegen die Mauergänge, Wegnen und Sägessen. Die durch Künstliche Intelligenzen erlösten Arbeitslosen können die verlassenen Alpendörfer beleben. Und alle sollten wir die Skimasten zu Mahnmalen, Witzbolzen umgestalten: Hier haben sie mal einem dummen Hobby gefrönt, als sie noch nicht echte Schweizer:innen waren.

Hier mein zweiter Hexenspruch: 

Betruf an die Berge
Oh ihr Alpen! Wenn ihr denn zerbrösmeln wollet
So Brösmelt! Fallt auf uns darnieder!
Zermalmet unsre Egos und Legos
Würzt eure Füsse mit unserer Tobleronenseele
Wir können euch nicht länger bezwingen
Ihr würdet sowieso winnen
Wenn wir aber nicht mehr Ski fahren können
So gönnt uns wenigstens noch Zuflucht
Vor der grossen weiten Welt
Und nehmt uns bitte ernster als wir wollen
Und verwandelt uns euch an
Vom Alpenvolk zu Körpern ganz voll Alpen 
Könnt ihr uns noch berglicher beherbergen?
Wir wolln euch werden.

Kim de l’Horizon, Shootingstar der Literaturszene, wird sich in dieser Kolumne annähern an die Gegenwart, die Gesellschaft und die Erde.