Bundesrat Berset«Die Ärzte haben sich in den letzten Jahren wenig kompromissbereit gezeigt»
Der Prämien-Schub 2024 ist mit 8,7 Prozent besonders gross. Antworten dazu lieferte heute Bundesrat Alain Berset.
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GDK-Präsident Lukas Engelberger: Kantone nehmen Verantwortung wahr
Der Präsident der Schweizerischen Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK) und Basler Gesundheitsdirektor, Lukas Engelberger (Mitte), bedauert den starken Anstieg der Krankenklassenprämien. Er spricht von einer Folge der unerwartet stark angestiegenen Kosten wegen der medizinischen Entwicklung und des demografischen Trends der Alterung.
Die Prämien seien seit dem zweiten Halbjahr 2021 und insbesondere in diesem Jahr stärker gestiegen als erwartet, teilte Engelberger am Dienstag auf Anfrage der Nachrichtenagentur Keystone-SDA mit. Hinzu sei ein Nachholbedarf aus dem vergangenen Jahr gekommen, den die Kassen zu tief eingeschätzt hätten. Schliesslich hätten die Kassen durch Verluste am Kapitalmarkt Reserven und damit finanziellen Spielraum verloren.
Von Verfehlungen in der Gesundheitspolitik der Kantone möchte Engelberger nicht sprechen. «Die Kantone sind bereit, Verantwortung in Bezug auf die Kosten zu übernehmen, und sie tun dies mit spürbaren Auswirkungen», so der GDK-Präsident. Die GDK trage sowohl die Kostendämpfungspakete der Vergangenheit und Gegenwart mit als auch den indirekten Gegenvorschlag zur Kostenbremse-Initiative.
Kostendämpfungsmassnahmen nicht wirkungslos
Schliesslich hätten, so Engelberger, die Kostendämpfungsmassnahmen der vergangenen Jahre durchaus Wirkung erzielt: Seit 2018 betrage der Anstieg der mittleren Prämien schweizweit durchschnittlich 2,4 Prozent, gegenüber 3,8 Prozent in den fünf Jahren davor.
Die Kantone sieht Engelberger auch beim «sozialpolitischen Korrektiv» durch die individuellen Prämienverbilligung in der Pflicht – eine, welche die Kanton durchaus erfüllen würden. Mit einem Anteil von 46 Prozent hätten die Kantone mehr an den Gesamtkosten von 5,4 Milliarden Franken beigetragen als noch 2017. (SDA)
Konsumentenschutz fordert Ausbau der Prämienverbilligung
Der Konsumentenschutz fordert angesichts der massiven Erhöhung der Krankenkassenprämien eine deutliche Erhöhung der Prämienverbilligung. Zudem gelte es, dringend notwendige Reformen des Gesundheitswesens umzusetzen, um die ausufernden Kosten unter Kontrolle zu bringen.
In Kombination mit der Preisexplosion bei Mieten, Strom, Lebensmitteln und öV-Tarifen werde die finanzielle Belastung nächstes Jahr für viele Konsumentinnen und Konsumenten untragbar, schreibt die Stiftung für Konsumentenschutz (SKS) in einer Mitteilung vom Dienstag.
Der Bund habe sich grosszügig gezeigt und Grossbanken und Energiekonzernen mit Steuergeldern ausgeholfen, um schwierige Situationen zu überbrücken. Jetzt sei es an der Zeit, die Bevölkerung zu unterstützen, damit sie diese Prämiensteigerung stemmen könne.
Das aktuelle Parlament habe es unterlassen, in den vergangenen zwei Sessionen genügend zusätzliche Mittel für Prämienverbilligung zu beschliessen. Das ungenutzte Sparpotential im Gesundheitswesen durch längst überfällige Reformen sei enorm. Genannt werden beispielsweise die Senkung der Medikamentenpreise, die Korrektur von fehlerhaften Arzt- und Spitalrechnungen sowie die Vermeidung von unnötigen Untersuchungen und Behandlungen. (SDA)
Caritas nimmt Kantone in die Pflicht
Laut dem Hilfswerk Caritas müssen Personen mit niedrigem Einkommen 10 bis 15 Prozent ihres Bruttoeinkommens für die monatliche Krankenkassenprämie aufwenden. Das sei deutlich mehr als für den Durchschnittshaushalt. Nun stünden die Kantone in der Pflicht.
«Mit dem erneut massiven Anstieg nimmt die Prämienlast für viele Menschen im kommenden Jahr ein erdrückendes Ausmass an», wird Caritas-Direktor Peter Lack in einer Mitteilung vom Dienstag zitiert. Manche verzichteten gar darauf, zum Arzt zu gehen, aus Angst vor der Belastung durch Selbstbehalt und Franchisen.
Erschwerend komme hinzu, dass Personen mit geringem Einkommen überdurchschnittlich unter den steigenden Mietpreisen und Lebenshaltungskosten litten.
«Die individuelle Prämienverbilligung ist eines der wirksamsten Instrumente zur Armutsprävention», so der Caritas-Direktor weiter. Doch das Bundesparlament habe sich in den letzten Monaten nicht auf eine spürbare Entlastung einigen können und lasse die Menschen im Regen stehen.
Als Argument gegen ein stärkeres Engagement des Bundes werde oft ins Feld geführt, dass die Verantwortung bei den Kantonen liege. Aber auch hier geschehe zu wenig.
Die Kantone hätten sich zulasten des Bundes aus der Verantwortung zurückgezogen, denn Kantonsanteil an der Finanzierung der Prämienverbilligung sei in den letzten zehn Jahren in der Mehrheit der Kantone gesunken. Die Kantone stünden jetzt in der Pflicht, bei der Individuellen Prämienverbilligung rasch und wirksam nachzubessern. (SDA)
Spitäler fordern zukunftsfähige Finanzierungssysteme
H+, die Spitäler der Schweiz, haben mit Besorgnis auf die Erhöhung der Krankenkassenprämien für 2024 reagiert. Trotz steigender Prämien könnten Spitäler und Kliniken ihre Kosten nicht decken. Die Politik sei jetzt gefordert und müsse zukunftsfähige Finanzierungssysteme gestalten.
Der Leidensdruck aufgrund der steigenden Krankenkassenprämien sei vor allem im Mittelstand und wegen der einzigartigen Kopfprämie sehr gross, schreibt H+ in einer Mitteilung vom Dienstag.
Ein gesellschaftlich so zentrales Gut wie die Gesundheit dürfe nicht nur unter dem Gesichtspunkt von Kosten und Sparen betrachtet werden, wie dies in der politischen Debatte leider seit Jahren der Fall sei. Es brauche eine sachgerechte und korrekte Finanzierung der Gesundheitsversorgung, beispielsweise über Pauschalen und einen Einzelleistungstarif auch im ambulanten Bereich sowie die Einheitliche Finanzierung (EFAS).
Trotz der Unterfinanzierung von 30 Prozent im ambulanten Bereich, bauten die Spitäler und Klinken ihr ambulantes Leistungsangebot aus und unterstützten damit die politisch gewollte Verschiebung vom stationären Sektor in den ambulanten Bereich. Denn viele Behandlungen könnten so kostengünstiger erbracht werden.
Weiter setze sich H+ für die Einführung eines angemessenen ambulanten Tarifsystems bestehend aus Pauschalen und dem Einzelleistungstarif TARDOC ein. Die Grundlagen dafür hätten die Tarifpartner geschaffen und sollten in der Organisation ambulante Arzttarife (OAAT AG) zu einem kohärenten Tarifsystem zusammengeführt werden. (SDA)
Krankenkassenverbände wollen Leistungskatalog anpassen
Gemäss den Krankenkassenverbänden Santésuisse und Curafutura hat das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) das Sparpotential im Gesundheitswesen nicht ausgeschöpft. Insbesondere bei Medikamenten seien mehr Einsparungen möglich. Zudem soll der Leistungskatalog angepasst werden.
Für Curafutura sind es die Prämienzahlerinnen und -zahler, die nun für hinausgeschobene Reformvorhaben büssen, wie es in einer Mitteilung vom Dienstag heisst. Das EDI habe den Spielraum der Kostendämpfungsmassnahmen unzureichend genutzt, das sei unverständlich.
Mit der Margenrevision bei den Medikamenten wäre eine unmittelbare Kostendämpfung von 60 Millionen Franken möglich geworden. «Und als Auswirkung auf den Vertrieb von mehr Generika und Biosimilars hätten nochmals mehrere 100 Millionen Franken eingespart werden können».
Ebenso würde die Einführung des Arzttarifs Tardoc Kosten senken. Die Diskussion über den Leistungskatalog in der obligatorischen Grundversicherung hat für Curafutura ebenso Potenzial. Denn dieser umfasse quasi 98 Prozent aller Leistungen. Man müsse den Vollausbau hinterfragen.
Der Krankenkassenverband Santésuisse fordert einen sofortigen Ausbaustopp des Leistungskataloges. Laut Krankenkassenverband Santésuisse sind 2023 die Kosten für Medikamente, Pflege, Psychotherapie und Physiotherapie besonders stark gestiegen. Dies rechtfertige den Anstieg von 8,7 Prozent im Jahr 2024, schreibt der Verband in einer Mitteilung.
Der Verband ist der Ansicht, dass Reformen notwendig sind, wie z.B. die Senkung der Labortarife und der Medikamentenpreise auf das Niveau der anderen europäischen Länder sowie die Verwendung von Generika. Diese Massnahmen würden Einsparungen von weit über einer Milliarde Franken ermöglichen, so Santésuisse.
Mittel- und langfristig seien in der Versorgungsplanung durch die Kantone bei den Spitälern sowie den Ärztinnen und Ärzten deutliche Verbesserungen notwendig. (SDA)
Die Medienkonferenz ist beendet
Keine weiteren Fragen, Berset erklärt die Medienkonferenz für beendet.
Frage: Was sagt Berset zur Einheitskasse? Und zu lohnabhängigen Prämien?
Der Bundesrat lehne eine Einheitskasse ab, sagt Berset. Aber es gäbe in letzter Zeit interessante Stimmen, die dies fordern.
Bei den lohnabhängigen Prämien gäbe es auch eine neue Entwicklung, die in Zukunft vielleicht eine Rolle spielen könne. Das Problem der Kantone sei, wer diei Verbilligungen bekomme – dies geschehe schon heute zumTeil einkommensabhängig.
Frage: Wieso die grossen kantonalen Unterschiede?
Levy: Zum Teil durch die Entwicklung in der Vergangenheit, zum anderen Teil durch die Nutzung des Systems.
Die kantonalen Kosten seien entscheidend.
Frage: Werden Verluste die Prämien weiter nach oben drücken oder bleibt es in Zukunft bei den Kosten?
Jetzt seien die Reserven tiefer, aufgrund der 3,3, Milliarden Verlust im letzten Jahr. Darum habe man weniger Handlungsspielraum bei den Prämien. Aber man muss nicht davon ausgehen, dass dies im nächsten Jahr wieder passiert, sagt Berset.
Levy: Es sind die Kosten, die die Prämien naoch oben treiben.
Frage: Müssen die Schweizer jetzt einfach mit den steigenden Preisen leben?
Es werde nicht jedes Jahr eine so hohe Steigerung der Preise geben. Aber steigen werden sie wohl, meint Berset. Aber man müsse den Kampf weiterführen, mit all den Akteuren des Systems.
Frage: Was ist ihre Verantwortung an den hohen Prämien?
Man habe in den letzten Jahren grosse Anstrengungen unternommen. «Die Pandemie hat alles verändert», sagt Berset. Zuvor habe man die Weichen gestellt, die Preise zu senken. Er sei seit 12 Jahren hier und nehme natürlich Verantwortung. Er sei hier, um das zu erklären. Aber das System sei nicht nur er, es seien auch zu grossen Teilen die Kantone, die Ärzte etc.
Frage: Was haben Sie für einen Tipp für ihre Nachfolgerin/Nachfolger?
Berset lacht und sagt, er habe bereits alles versucht. Man müsse realistisch sein und die vielen Akteure beachten. Die Transparenz müsse erhöht werden, sagt Berset. Die Akteure sollen an einen Tisch kommen.
Frage: Sehen Sie bei den Ärzten das grösste Problem?
«Ich will keine Gruppe isoliert betrachten. Die Verhandlungen sind mit niemandem einfach gewesen», sagt Berset. Alle Akteure müssten sich beteiligen, auch wenn sie direkt betroffen seien.
Frage: Braucht es eine Revolution im System? Die Situation ist sehr unbefriedigend.
«Mit der Ausnahme von 1848 war ich nie ein Freund von Revolutionen», sagt Berset. Man müsse den guten Zugang zum Gesundheitssystem weiterhin ermöglichen. Die Probleme im System würden aber langsam zu grossen Problemen für die Menschen. Man müsse die Kosten jetzt einfach senken.
Frage: Was braucht es, um das Gesundheitssystem für die nächsten Jahre gut aufzustellen?
Es gäbe ein grosses Angebot an Krankenkassen und Anbietern, sagt Alain Berset, dazu den Einfluss von Kantonen und Bund. Deshalb fordert Berset eine Erhöhung der Transparenz. Er hätte die Akteure auf Ziele verpflichten wollen. Dies hätte die Transparenz erheblich erhöht.
Fragenrunde beginnt. Frage: Was ist die Botschaft an den Mittelstand, der keine Verbilligung erhält?
Man sehe, dass die Preise sehr hoch sind, sagt berset. Zwei Massnahmen, die der Bundesrat ergriffen habe: Kostensenkungen und Prämienverbilligungen. Da gibt Berset den schwarzen Peter weiter an die Kantone: Es gäbe Kantone, die massiv gekürzt hätten bei den Verbilligungen.
«Es war mir immer ein Anliegen, den Leistungskatalog nicht anzufassen», sagt Berset. Täte man dies, würde man die Kosten leicht senken können. Aber dann seien gewisse Therapien nicht mehr möglich.
«Es gibt nicht DEN Kostentreiber»,
«Es gibt nicht DEN Kostentreiber», sagt Levy. Es seien mehrere Faktoren, die zu den momentanen Preisen führen. Man analysiere die Lage mit den Experten permanent und greife auch immer wieder ein. So habe man bereits Kosten senken können. Man wolle auf Behandlungen, die unnötig für den Patienten seien, verzichten.
Warum die Kosten steigen, laut BAG
Levy geht jetzt auf die Unterschiede in den Kantonen ein. Am stärksten sei der Anstieg im Tessin – mit über 10 Prozent.
Die Steigerung der Kosten sei zu erklären mit dem längeren Leben der Menschen und mit dem besseren Angebot im Gesundheitssystem. Aber die höheren Kosten seien auch eine Folge der stärkeren Nutzung des Systems: Es sei ein Bedürfnis, mehr zum Arzt zu gehen. Dies habe aber auch seine Folgen – eben mit den höheren Kosten.
Polster sind weg
Anne Lévy, Direktorin des BAG, übernimmt das Wort. «Wir können nicht einfach zur Normalität übergehen», sagt sie. Die Krankenkassen würden über genügend Reserven verfügen, aber das Polster sei weg.
«Wir müssen die Fähigkeit, Reformen zu machen, bewahren»
Der Bundesrat arbeite weiter an der Senkung der Prämien, so Berset. Man brauche jetzt Gesetze, die das möglich machen. «Wir müssen die Fähigkeit, Reformen zu machen, bewahren. Aber es müssen auch nützliche Reformen sein», sagt Berset.
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