Prämienschock belastet FamilienKein Kino für die Kinder, und die Eltern gehen nicht zum Arzt
Der Prämienschub um 8,7 Prozent ist eine Hiobsbotschaft für den unteren Mittelstand. Die Folgen sind unbezahlte Rechnungen, kein Warmwasser und leidende Kinder.
Die Erhöhung der Krankenkassenprämien um durchschnittlich 8,7 Prozent trifft vor allem den unteren Mittelstand. Natürlich nicht nur ihn. Der Prämienschub ärgert alle Einkommensklassen. In existenzielle Not geraten Vielverdienende deswegen aber nicht. Und bei jenen, die Sozialhilfe empfangen, kommt der Staat für die Prämien auf. Wer hingegen knapp keine oder nur teilweise Prämienverbilligung erhält, hat nun ein gröberes finanzielles Problem. Denn der Prämienschub kommt im dümmsten Moment.
Viele Familien wissen schon jetzt kaum mehr, wie sie ihre Rechnungen bezahlen sollen. Weil bereits die Miete aufgeschlagen hat, genauso wie die Nebenkosten. Und die Lebensmittel sind ebenfalls deutlich teurer geworden. Hinzu kommen nun – nochmals – Hunderte von Franken, welche die Krankenkasse im nächsten Jahr zusätzlich verschlingt.
Die steigenden Prämien stehen denn auch ganz oben auf der Sorgenliste der Schweizerinnen und Schweizer. Sowohl bei der Tamedia-Wahlumfrage als auch beim SRG-Wahlbarometer werden sie als wichtigste politische Herausforderung genannt – noch vor dem Klimawandel, der Zuwanderung und der Altersvorsorge. Sie haben das Potenzial, viele Familien in die Armut zu treiben.
Seit über drei Jahren nicht mehr in den Ferien
Zum Beispiel Tatjana G. (Name geändert). Die 40-Jährige lebt mit ihren beiden Kindern in einer 3-Zimmer-Wohnung in Bad Ragaz SG und verfügt über ein monatliches Einkommen von 3700 Franken. Das ist zu viel, um Sozialhilfe zu erhalten. Dennoch reicht das Geld kaum, um über die Runden zu kommen.
1400 Franken gehen für die Miete inklusive Nebenkosten weg. Lebensmittel kauft Tatjana G. meist bei Lidl oder im Caritas-Markt. Und neue Kleider gibt es nur für die Tochter und den Sohn. «Ich spare bei mir, nicht bei den Kindern», sagt die Alleinerziehende. Sie würde ihren Kindern auch gern einmal ermöglichen, mit Freunden ins Kino zu gehen, was derzeit nicht drinliegt. Und in den Ferien waren sie schon seit über drei Jahren nicht mehr.
Wenn der Strom und die Krankenkasse teurer werden, weiss Tatjana G. nicht mehr, wo sie noch sparen soll.
Tatjana G. braucht das wenige Geld für anderes. Zur grossen Belastung sind die Stromkosten geworden. Innert eines Jahres erhöhte sich die 2-Monats-Rechnung von 200 auf fast 380 Franken. Den hohen Verbrauch führt die 40-Jährige darauf zurück, dass die Altbauwohnung mit alten Elektroboilern ausgerüstet ist. Im Sommer hat sie die Boiler zeitweise ausgeschaltet, verzichtet also auf Warmwasser.
Bisher konnte sie die Rechnungen immer bezahlen. Doch wenn jetzt der Strom und die Krankenkasse im kommenden Jahr nochmals teurer werden, weiss Tatjana G. nicht mehr, wo sie noch sparen soll. Immerhin erhält sie die Prämien zum Teil verbilligt, aber eben nur zum Teil. Bei ihrem Budget wird jeder zusätzliche Franken zum Problem.
Aus Angst vor den Kosten nicht zum Arzt
Alleinerziehende sind besonders häufig arm. Aber nicht nur für sie wird es immer enger. «Die steigenden Krankenkassenprämien sind ein grosses Problem. Sie belasten die Menschen stark, die zu uns in die Sozialberatungen kommen», sagt Andreas Lustenberger, Geschäftsleitungsmitglied beim Hilfswerk Caritas. Oft kämen sie erst, wenn sie alles versucht hätten, um sich selbst über Wasser zu halten – aber nicht mehr wüssten, wie es weitergehen solle. Meist liege dann bereits eine beträchtliche Verschuldung vor.
«Der Prämienschub erschwert Schuldensanierungen oder verunmöglicht solche gar», sagt Lustenberger. Zwar würden die Prämienverbilligungen helfen. Doch sie hätten in vielen Kantonen nicht Schritt gehalten mit den immer höheren Prämien.
Öfter beobachten die Caritas-Betreuer auch, dass zu hohe Franchisen abgeschlossen werden – weil die Betroffenen sich die Prämie mit der Standardfranchise schlicht nicht leisten können. Stattdessen hoffen sie darauf, dass sie gesund bleiben. Kommt es dann trotzdem zu einer teuren Behandlung, kann dies schlimme Folgen haben. «Manche verzichten aus Angst vor den Kosten gar darauf, zum Arzt zu gehen», so Lustenberger.
Auch Zahnarztkosten sind bei Caritas immer wieder ein grosses Thema. Sie werden von den Krankenkassen in der Regel nicht übernommen. Oft verzichten daher Menschen, die knapp bei Kasse sind, auf Kontrollen und notwendige Behandlungen. Ist ein Eingriff dann nicht mehr zu vermeiden, führt dies öfter zu finanziellen Notlagen.
Ergänzungsleistungen für Familien gefordert
Die zunehmende Not zeigt sich auch an der Zunahme von Betreibungen. Und am Ansturm auf die Caritas-Märkte. Dort kaufen 40 Prozent mehr ein als noch im letzten Jahr. Wenn die Politik hier nicht gegensteuere, komme es zu einer immer stärkeren Segmentierung der Gesellschaft mit Reichen und Armen – und einem kleineren Mittelstand, mahnt Lustenberger. Caritas schlägt daher Ergänzungsleistungen für Menschen in prekären Situationen vor, insbesondere für Familien. Denn: «Wenn Kinder in Armut aufwachsen, wirkt sich dies negativ auf ihre Entwicklung aus», so Lustenberger. Dies gelte es zu verhindern.
Die Kantone Solothurn, Tessin, Waadt und Genf kennen bereits solche Ergänzungsleistungen für Familien. Caritas würde sie gern auch in anderen Kantonen einführen – und plädiert für eine stärkere Verbilligung der Prämien des unteren Mittelstands. Auf dass der Prämienschock für die am stärksten Betroffenen etwas gelindert werden kann.
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