Mathias Flückiger im Interview«Die Rückkehr in die Öffentlichkeit hat viel Kraft gekostet»
Der Mountainbiker wurde zum Dopingsünder abgestempelt, jetzt gewinnt er wieder – und weiss doch nicht, was noch kommt. Er gibt Einblicke in seine besondere Gefühlswelt.
Mathias Flückiger, nach einer längeren Durststrecke standen Sie kürzlich wieder auf dem Siegerpodest. Sind Sie nun wieder der Alte?
Von der Leistung her vielleicht schon …
… aber?
Mein Selbstvertrauen ist sicher auch langsam wieder da, wo es einst war. Aber die Dopingvorwürfe waren für mich ein Schicksalsschlag, das hat mich als Mensch verändert. Vielleicht ist das letztlich aber auch das Positive daran.
Wie meinen Sie das?
Ich habe etwas erlebt – und genau das macht uns Menschen ja letztlich aus. Ich will gar nicht der Alte sein, auch wenn das Erlebte in diesem Fall negativ war.
Warum nicht?
Ich habe viele Erfahrungen gesammelt, die ich mitnehmen will. Für mich hat es aber viel bedeutet, endlich wieder ein ganz grosses Rennen zu gewinnen. Auch als Zeichen, dass mich diese Geschichte nicht zerstört hat.
Sehen Sie sich als Opfer?
Nein, als Profisportler muss einem bewusst sein, dass so etwas passieren kann. Und ich habe mich aktiv für den Spitzensport entschieden – das passt nicht zu einer Opferrolle. Trotzdem hat es mich lange innerlich aufgefressen.
Können Sie das genauer beschreiben?
Es war, als hätte man mir den Boden unter den Füssen weggezogen, und dann mischten sich Wut, Enttäuschung, Fassungslosigkeit in dieses Gefühl der Ohnmacht. Ich stand vor der Frage, was das alles soll.
Die Dopingvorwürfe? Der Radsport?
Auch, aber bei weitem nicht nur. Ich sah keinen Sinn mehr, überhaupt weiterzufahren – die Freude war weg.
«Statt ein Foto von einem traumhaften Sonnenuntergang zu schiessen, habe ich ihn einfach nur betrachtet.»
Und dann?
Ich musste die Energie für mich neu entfachen und erkennen, dass Lebensfreude Raum und Nahrung braucht.
Wie ein Pflänzchen, das Pflege benötigt?
Genau. Es dauerte aber, bis der Samen keimte. Egal, ob mir beim Renovieren der Küche etwas Schönes gelang oder ob ich eine coole Radtour erlebte: Lange fehlten die positiven Gefühle.
Wie haben Sie reagiert?
Ich gab mir Mühe, dieses winzige Pflänzchen, diese raren Momente – wie ein feines Zmorge – sehr bewusst zu erleben.
Wie?
Indem ich Dinge unternahm, von denen ich wusste, dass sie mir einst Freude bereitet hatten. Und ich gab ihnen Zeit, auf mich zu wirken. Ich bin ganz bewusst raus in den Wald gegangen, um einen Trail zu bauen. Oder statt ein Foto von einem traumhaften Sonnenuntergang zu schiessen, habe ich ihn einfach nur betrachtet. Die kleinen Dinge, die früher selbstverständlich waren, erhielten einen höheren Stellenwert.
Zum Beispiel?
Ein zusätzliches Tablar in einem Schrank, das ich eingebaut hatte und mir mehr Platz verschaffte. Statt mich mit grossen, extremen Glücksmomenten wieder aufzubauen, tat ich es mit den alltäglichen und kleinen.
Wie das?
In dieser schwierigen Zeit fehlten die grossen Glücksmomente ja völlig. Ich lernte deshalb, mich an Dingen zu erfreuen, die nur mir selbst viel bedeuten.
Was heisst das konkret?
Nehmen wir das Beispiel von jemandem, der ein schönes Haus baut. Natürlich freut er sich selbst darüber. Doch ein schmucker Neubau kann auch bei anderen Menschen etwas auslösen. Und dann gibt es da das Tablar im Schrank, das kein anderer sieht – und trotzdem seinen Wert hat. Dinge und Emotionen, die nur für einen selbst eine Bedeutung haben, sind wertvoll – auch weil nichts und niemand sie einem nehmen kann.
«Kaufe ich ein teures Auto, weil es mir Spass macht oder weil es mir Anerkennung verschafft?»
Verwechseln wir Freude mit Anerkennung?
Ich denke, dass viele das nicht trennen. Kaufe ich ein teures Auto, weil es mir Spass macht oder weil es mir Anerkennung verschafft? Ich will damit nicht sagen, dass Anerkennung etwas Schlechtes ist. Wir Menschen brauchen sie und ohne sie würde der Spitzensport ja gar nicht funktionieren. Doch wir müssen unsere Freude unabhängig davon kultivieren.
Nun sind die grossen Momente wieder da – die Siege auf der Weltbühne. Rücken damit die kleinen Dinge für Sie wieder in den Hintergrund?
Nein. Für mich bleiben sie wichtig. Sie sind wie ein Fundament, auf dem die positiven Gefühle und die Zeiten der Freude stehen. In dieser Hinsicht lebe ich heute bewusster.
Die Sperre ist im Dezember aufgehoben worden, und seit dieser Saison bestreiten Sie wieder Rennen. Dann erlitten Sie eine Verletzung. Und auch sonst schien es nicht so richtig nach Wunsch zu laufen.
Das klingt so, als wäre es für mich eine Saison wie jede andere gewesen. So ist es aber überhaupt nicht. Besonders der Anfang hat mich viel Kraft gekostet, die Rückkehr in die Öffentlichkeit, an die Startlinie. Angesichts der Umstände war ich schon vor meinem Sieg sehr zufrieden. Die körperliche Form stimmte, aber im Wettkampf fehlte mir der entscheidende Biss, wenn es ans Eingemachte ging.
Ein mentales Problem?
Nein, es lag eher an der Psyche.
Ist das nicht dasselbe?
Für mich nicht, nein. Mental war ich bereit. Das heisst, mein Wille war da. Ich trainierte, absolvierte harte Intervalltrainings und wollte auch wieder Rennen fahren.
«Während mein Körper wieder in Form war und mein Wille mit der Zeit wieder erstarkt war, hat meine Psyche offenbar länger gebraucht.»
Aber?
Ich war psychisch noch nicht ganz erholt. Während mein Körper durch das Training wieder in Form war und mein Wille mit der Zeit wieder erstarkt war, hat meine Psyche offenbar länger gebraucht. Doch wenn man ganz nach vorne und über sich hinauswachsen will, reicht der Kopf – also der Wille – nicht. Der Antrieb muss von ganz tief drinnen kommen. Ich glaube, nur so können wir Menschen grosse Leistungen erbringen.
Können Sie das konkretisieren?
Andere nennen es vielleicht einen Sinn finden – ich nenne es Freude. Und wenn ich zurückblicke, habe ich drei Phasen durchlebt.
Nämlich?
Zu Beginn war da die Trauer – daraus kann man aber keine Energie schöpfen. Es ist zwar ein wichtiges Gefühl, aber auch eines, das schwächt. Dann kam die Wut. Sie war es, die mir in dieser Zeit am meisten Energie verlieh. Sie brachte mich quasi durch den Winter und setzte Ressourcen für harte Trainings frei. Was aber noch lange fehlte, war die Freude an meinem Job – also an den Wettkämpfen auf dem Velo.
Das ist die dritte Phase?
Ja, sie setzte erst etwa Mitte Saison ein – das lässt sich übrigens direkt an meinen Resultaten ablesen. Die einzelnen Phasen, aber auch die Übergänge von einer in die nächste haben mir viel Kraft abverlangt. Ich musste mich manchmal ganz bewusst auf das verlassen, was ich rational wusste, statt auf die Gefühle, die ich verspürte.
Wie meinen Sie das?
Ich wusste, dass mir das Rennenfahren viel Spass bereitet hatte. Nur fand ich diesen zu Beginn nicht. Ich fragte mich darum, was es genau gewesen ist, das ihn ausgemacht hat.
Und?
Das Gefühl von Geschwindigkeit zum Beispiel, den Flow zu fühlen. Aber auch die Aufregung, die zu den Wettkämpfen gehört. Allem voran aber: auf ein grosses Ziel hinzuarbeiten und dabei Zwischenziele zu erreichen, die mich antreiben, immer weiterzumachen.
«Wir sollten unsere Leistungen stets im Kontext der aktuellen Gegebenheiten betrachten, wenn wir sie für uns selbst bewerten.»
So fanden Sie die Motivation, trotz fehlenden Spitzenplätzen weiter anzutreten?
Ich wusste, körperlich reicht es für ganz nach vorne. Die letzten Monate haben mich aber gelehrt, dass sein Bestes geben nicht in jeder Situation dasselbe bedeutet.
Sondern?
Unter bestimmten Umständen ist bereits ein Platz unter den ersten 20 oder überhaupt die Teilnahme an einem Wettkampf eine Höchstleistung. Wir sollten unsere Leistungen stets im Kontext der aktuellen Gegebenheiten betrachten, wenn wir sie für uns selbst bewerten.
Das gilt wohl für uns alle.
Ich denke, ja. Wer sein Bestes gegeben hat, kann mit sich zufrieden sein. Auch wenn das gewohnte Leistungsniveau eigentlich höher und die Resultate für gewöhnlich besser sind. Es gibt dann keinen Grund, das Erbrachte kleinzureden. Deshalb habe ich mich über die Zwischenziele freuen können, auch wenn meine Ergebnisse vor Andorra noch nicht an jene anknüpften, die ich vor der Sperre erreicht hatte.
Nun ist diese Sperre aufgehoben worden, abgeschlossen ist Ihr Fall jedoch noch immer nicht.
Das ist richtig. Er liegt wieder bei der Disziplinarkammer von Swiss Olympic. Mehr kann ich derzeit nicht dazu sagen.
Was bedeutet dies für Ihren Alltag?
Es ist einfach: Solange der Fall nicht offiziell ad acta gelegt ist, kann ich ihn auch nicht abschliessen. Im Grunde weiss ich, dass ich nichts zu befürchten habe. Allerdings war das ja auch so, bevor die Sache im August vor einem Jahr ins Rollen kam. Was dann geschah, hat mein Vertrauen ins System der Schweizer Dopingbekämpfung erschüttert. Inzwischen habe ich gelernt, damit umzugehen. Manchmal gelingt mir das gut, manchmal nicht.
Wie meinen Sie das?
Wir kennen sie wohl alle, diese Tage, an denen wir empfindlicher sind. Dann setzen mir diese Dinge mehr zu und bringen mich eher aus der Fassung. Aber gerade in diesem Punkt haben mich die vergangenen Monate verändert.
Inwiefern?
Ich bin von Natur aus ein impulsiver Mensch. Früher musste ich Probleme jeweils möglichst sofort ansprechen, um sie aus der Welt zu schaffen. In dieser sehr schwierigen Zeit habe ich nun aber erkannt, dass es gerade in diesen Momenten wertvoll ist, sich zu fragen, wie es um die eigene Befindlichkeit bestellt ist. Das kann eine Abwärtsspirale verhindern.
«Ich glaube, dass wir weniger persönliche Werkzeuge zur Verfügung haben, wenn es uns schlecht geht.»
Mögen Sie uns das erklären?
Habe ich just an einem solchen sensibleren Tag eine Meinungsverschiedenheit mit jemandem, wird die Sache meist nicht besser, wenn ich den Konflikt sofort anpacke. Einen Tag später kann meine innere Welt schon viel besser aussehen. Damit meine ich nicht nur, dass die zeitliche Distanz auch die Gelassenheit fördert.
Was noch?
Ich glaube, dass wir weniger persönliche Werkzeuge zur Verfügung haben, wenn es uns schlecht geht. Wenn ich besser im Strumpf bin, ist die Auswahl allerdings grösser, und somit habe ich die besseren Karten, den Konflikt konstruktiv anzugehen. Meist sehe ich dann auch verschiedene Lösungen und nicht nur einen Weg.
Zurück zu den grossen Zielen, auf die Sie gerne hinarbeiten. Welche stehen noch auf Ihrer Bucketlist?
Kurzfristig möchte ich an den verbleibenden Weltcuprennen weiter Erfahrungen sammeln – und ich gebe alles für den Sieg im Gesamtklassement. Nächstes Jahr stehen die Olympischen Spiele an, da will ich wieder eine Medaille holen. Fast nahtlos geht es dann an die WM nach Andorra, und da ist ja klar, was ich will. (lacht) Persönlich will ich, dass es meinem «Freudepflänzchen» weiterhin so gut geht wie jetzt. Der Schlüssel dazu ist, meine Träume zu leben.
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