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Kunsthaus Zürich
Nackte Leiber und grosse Bilder sind nur die Instant-Version von ihrer Radikalität

A person walks trough two naked artists in the exhibition of Marina Abramovic, a Serbian performance and conceptual artist, in Zurich, Switzerland on Thursday, October 24, 2024. (KEYSTONE/Til Buergy)
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In Kürze:
  • Eine Ausstellung im Kunsthaus Zürich zeichnet anhand von Fotos und Filmen die Karriere der Performancekünstlerin Marina Abramovic nach.
  • Nacktheit, Schmerz und Meditation sind die zentralen Themen.
  • Performance ist gemäss Marina Abramovic eine Kunstform, in der zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Platz zwischen Künstler und Publikum eine energiereiche Interaktion stattfindet.

Wie wir uns zwischen einer nackten Frau und einem nackten Mann hinein in diese Ausstellung zwängten, das sollten wir schon am eigenen Leib erfahren, sagt Marina Abramovic anlässlich der Pressekonferenz zu ihrer grossen Retrospektive im Kunsthaus Zürich. Wir hätten uns dabei zu entscheiden, ob wir diese Nähe aushalten könnten und ob wir uns zur Frau oder zum Mann hinwendeten. Denn der Abstand zwischen den beiden ist so schmal, dass man nur seitlich hindurchkommt und mit seinen Kleidern unweigerlich nackte Haut berührt.

Marina Abramovic, a Serbian performance and conceptual artist, during a media confernce at the Kunsthaus Zuerich, in Zurich, Switzerland on Thursday, October 24, 2024. (KEYSTONE/Til Buergy)

Wir machen die Probe aufs Exempel. Das Erlebnis wirft uns nicht aus der Bahn. Die Begegnung kommt uns weder skandalös vor noch als das Normalste der Welt. Wir fühlen uns nicht verwandelt, auch wenn das durchaus im Sinne der Künstlerin wäre. Aber so viel können wir sagen: Der von Nackten flankierte Eingang verliert viel von seinem Schrecken, wenn wir uns wagen, diese paar Schritte hinein in die Ausstellung zu tun.

Marina Abramovic: «Nacktheit ist doch das Natürlichste der Welt»

Marina Abramovic meint im Gespräch mit Mirjam Varadinis, der Kuratorin der Zürcher Ausstellung: «Nacktheit ist doch das Natürlichste der Welt.» Auch wenn unsere Filme, Illustrierten und Social-Media-Kanäle voll seien mit verführerischen und abstossenden Nackten, seien wir doch alle nackt ohne Kleider, meint die inzwischen 77 Jahre alte Künstlerin humorvoll.

Aufnahmen von der Erstaufführung der Performance «Imponderabilia» in Bologna, 1977.

Neben der Tür mit den Nackten gibt es im Kunsthaus noch zwei zusätzliche, durch graue Schnüre verdeckte Eingänge in die Ausstellung. Durch diese kann man die Schau betreten, ohne körperlichen Kontakt mit den Nackten.

«Imponderabilia»: Awareness-Konzepte und Triggerwarnungen

Die Künstlerin bezeichnet diese Lösung als schlechten Kompromiss, den sie mit ihrer Kunst leider in der heutigen Museumswelt eingehen müsse. 1977, als sie mit ihrem Freund Ulay die 90 Minuten dauernde Performance mit dem Titel «Imponderabilia» erstmals gezeigt hatte, machte die Galleria Comunale d’Arte Moderna in Bologna keine Kompromisse. Aber heute haben alle Museen Awareness-Konzepte und Triggerwarnungen, damit ein prüder gewordenes Publikum nicht überfordert wird.

Meditation mit oxidiertem Kupfer? Aufnahme von der Performance «White Dragon», 1989.

Die Abramovic-Retrospektive war letztes Jahr in der Royal Academy in London zu sehen und wird in Zürich in abgewandelter Form gezeigt, bevor sie nach Wien und Amsterdam weiterzieht. Wie die Künstlerin im Gespräch mit Mirjam Varadinis erklärt, musste die Ausstellungsgestaltung den im Kunsthaus im Vergleich zur Royal Academy weniger hohen Räumlichkeiten angepasst werden. Zudem legt die Zürcher Ausstellung im zweiten Teil besonderen Wert auf die Aktivierung des Publikums. Es ist aufgefordert, in und mit den Installationen der Künstlerin zu meditieren und mit den Werken aus der «Dragon»-Serie, die aus oxidiertem Kupfer und Rosenquarz bestehen, zu interagieren.

Fotos, Filme und wenige Live-Performances bei Abramovic-Ausstellung

Die Schau ist thematisch-chronologisch gegliedert und dokumentiert das Schaffen von Abramovic von den radikal-verrückten Anfängen in den 1970er-Jahren, als die Künstlerin ihre eigenen und die Grenzen ihres Publikums auslotete, bis zu den eher kontemplativen Arbeiten, die in den letzten Jahrzehnten entstanden. Im Gegensatz zu einer Kunstausstellung, die Originalwerke versammelt, die den Besucherinnen und Besuchern ein originäres Kunsterlebnis versprechen, können hier die teils ikonisch gewordenen Performances nur vermittelt durch Fotos, Filme und kurze Beschreibungen nachempfunden werden.

Als Besucher wird einem dabei schmerzlich bewusst, dass man nicht an einer Performance ist, sondern einer Ausstellung über Performances.

People are visiting the exhibition of Marina Abramovic, a Serbian performance and conceptual artist, in Zurich, Switzerland on Thursday, October 24, 2024. (KEYSTONE/Til Buergy)

Während Abramovic 2010 im Museum of Modern Art in «The Artist Is Present» während 75 Tagen in ihrer Ausstellung sass und die Besucherinnen und Besucher dazu einlud, solange sie mochten, ihr gegenüberzusitzen und ihr in die Augen zu schauen, schreitet man in Zürich in einem dunklen, lang gezogenen Raum Hunderte von farbigen Porträtfotos der Künstlerin und jener Personen ab, die damals entstanden.

Blutige Knochen: Marina Abramovic bei ihrer Performance «Balkan Baroque» an der Biennale Venedig, 1997.

Während Abramovic 1997 auf der Biennale in Venedig «vier Tage lang auf einem Berg stinkender und blutiger Knochen sass, weinte und Volkslieder vom Balkan sang», wie es im hervorragenden Katalog heisst, sehen wir in der Ausstellung die Requisiten jener theatralischen Parforceleistung und die damals abgespielten Filmprojektionen.

Während die Künstlerin 1973 in «Rhythm 10» mit 20 verschiedenen Messern zwischen die Finger ihrer gespreizten Hand stach und sich dabei auch verletzte, sehen wir davon an der Ausstellung ein paar Fotos, die einem eine nur blasse Ahnung von der Intensität jener Vorstellung geben.

Während sie 2002 in der Sean Kelly Gallery in New York zwölf Tage in einer öffentlichen Wohnung sich bei alltäglichen, ritualisierten Tätigkeiten zuschauen liess, zeugt in der Ausstellung ein Modell in der Grösse einer Puppenstube von der aus drei Zimmern bestehenden Wohnung in der Galerie.

A person is seen in the exhibition of Marina Abramovic, a Serbian performance and conceptual artist, in Zurich, Switzerland on Thursday, October 24, 2024. (KEYSTONE/Til Buergy)

Man könnte die Reihe so dokumentierter Performance-Ereignisse fortsetzen. Aber immerhin, viele der Fotos sind als Grossformate reproduziert, und die Filmaufnahmen, die einst zu dokumentarischen Zwecken entstanden, werden auf grosse Leinwände projiziert. Das ergibt eine gute Annäherung an Performances, die einst vor Energie nur so sprühten. Immerhin, zwei- oder dreimal am Tag gönnt uns die Ausstellung neben der Dauervorstellung der schon erwähnten Eingangs-Performance «Imponderabilia» noch eine zweite Live-Performance, nämlich «Luminosity». Und schliesslich kann man sich auch zu speziellen Führungen anmelden, bei denen noch mehr Live-Performances zu sehen sind.

Performance als Abklatsch der Uraufführung

Leider handelt es sich aber auch bei «Luminosity» nur um einen Abklatsch der Uraufführung in Berlin, bei der Abramovic 1997 nackt, von hellem Scheinwerferlicht beleuchtet, sechs Stunden auf einem Velosattel sass, die Arme und Beine gespreizt. Eine masochistische Selbstkasteiung, die einen an die Flagellanten des Mittelalters erinnert. Der Künstlerin ging es, wie sie selbst sagt, bei dieser Performance um eine transzendente Erfahrung spiritueller Art.

In Zürich bekommt man die Instant-Version davon zu Gesicht: Da harren die Performerinnen und Performer nicht länger als eine halbe Stunde in der quälenden Position aus, bei der das ganze Körpergewicht auf dem Genitalbereich lastet. Wie wenn es zu beweisen gälte, dass wir Heutige die Radikalität einer Marina Abramovic nie erreichen werden. Die Fotos, Filme und auch die neu inszenierten Performances dieser Ausstellung sind jedenfalls der Beweis, dass die Kunst dieser grossen Performancekünstlerin längst historisch geworden ist.

Die Ausstellung dauert bis zum 16. Februar 2025.