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Marina Abramovic im Porträt
«Er interviewte mich nackt. Ich habe ihn erlöst, das ist doch wunderbar»

epa11218208 Serbian artist Marina Abramovic looks on during a preview of her exhibition in the Stedelijk Museum in Amsterdam, Netherlands, 13 March 2024. The Amsterdam museum presents a retrospective of the oeuvre of the Serbian artist.  EPA/Ramon van Flymen
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In Kürze:
  • Marina Abramovic wurde mit extremen Performances weltberühmt.
  • Ein Aneurysma führte kürzlich zu Nahtoderfahrungen, die ihren Lebenswillen stärkten.
  • In Zürich gibt es ab Freitag eine umfassende Abramovic-Retrospektive mit begleitenden Veranstaltungen zu erleben.

Dem Tod hat Marina Abramovic bereits mehrfach ins Gesicht gesehen. Etwa damals, als ein Besucher einer ihrer Performances ihr eine geladene Pistole an den Hals setzte, die sie zuvor zusammen mit siebzig anderen Gegenständen – darunter Ketten, eine Rose und eine Rasierklinge – auf einem Tisch vorbereitet hatte.

«Ich bin das Objekt», hatte Abramovic dazu als eine Art Anleitung geschrieben. In einer anderen Arbeit legte sie sich in einen brennenden fünfzackigen Stern. Als sie ohnmächtig wurde, weil ihr der Sauerstoff ausging, holten sie die Zuschauer aus dem Stern heraus. Ein andermal spannte ihr Lebenspartner Ulay einen Pfeilbogen, der mitten auf ihr Herz gerichtet war.

Mit solchen Arbeiten, in denen sie ihr Leben riskierte, um Grenzen auszuloten, wurde Marina Abramovic berühmt. Aber die Nahtoderfahrung, die sie kürzlich machte, war anders: Sechs Wochen war Abramovic auf der Intensivstation, neun Bluttransfusionen bekam sie, zweimal wurde sie ins Koma versetzt – wegen eines Aneurysmas, also einer Arterienerweiterung.

Nicht loslassen: Marina Abramovic mit Lebensgefährte Ulay in der Performance «Rest Energy» von 1980.

«Das war schrecklich», sagt Abramovic an diesem Vormittag, an dem wir sie in ihrem Loft im New Yorker Stadtteil Soho treffen. Denn anders als bei ihren künstlerischen Arbeiten, bei denen sie kontrollieren konnte, wie weit sie gehen möchte, und zu denen es oftmals eine mehrmonatige Vorbereitung gab, machte sich die Arterienerweiterung plötzlich bemerkbar und liess die heute 77-Jährige zu einem Notfall werden. «Der Arzt hat mir gesagt, dass alle anderen daran gestorben wären. Nur ich nicht. Ich bin ein Wunder», sagt die Künstlerin.

Vermögend wurde Abramovic dank einer Immobilie

«Möchten Sie ein Foto davon sehen?», fragt Abramovic, als wir uns in die Sessel zwischen ihrem Esstisch und der offenen Küche fürs Gespräch setzen. Die Künstlerin trägt an diesem Vormittag ein weites, knielanges Kleid in einem schlichten Weiss. Ihr pechschwarzes Haar trägt sie offen.

«Name: Abramovic. Planet: Earth (hopefully)», heisst es auf einem Schild, das in Abramovics Wohnung am Fuss der Plattensammlung lehnt. Ein Geschenk ihrer Studierenden. Ansonsten erinnert in der Wohnung wenig daran, dass hier ein Weltstar lebt – mit Ausnahme der Wohngegend: Das Apartment, in dem Abramovic nun lebt, war gemäss einer Anzeige vor ein paar Jahren für knapp sechs Millionen Dollar zum Verkauf angeboten.

Erstmals grosses Geld habe sie nicht mit der Kunst gemacht, wird sie an diesem Vormittag erzählen. Sondern mit einem Haus, das sie in Amsterdam umgebaut und Jahrzehnte später, nach der Gentrifizierung des Stadtteils, für mehrere Millionen Euro verkaufen konnte. Die Wohnung hier in Soho sei mit einer Hypothek belehnt, nur ihr Haus in Upstate, eine grosszügige Villa mit fünfzackigem Grundriss, wo sie sich nach dem Interview und einem Zahnarzttermin zum Arbeiten zurückziehen wird, gehöre ihr voll und ganz.

Wiederauferstehung und wuchtiges Werk

Auf ihrem Handy zeigt Abramovic nun ein Foto ihres herausgeschnittenen Aneurysmas, aber auch vom Moment, als sie das Krankenbett wieder verlassen konnte. Abramovic hat auch ihre Nahtoderfahrung dokumentiert. Wie in einem Daumenkino lässt sich so ihre «Wiederauferstehung» nacherleben.

«Die Vorbereitung auf die Operation war ohne Narkose, ich musste wach bleiben, da habe ich den Arzt gebeten, die Operation zu fotografieren», erzählt sie. Das ist konsequent: Im vergangenen Jahr ist eine Bildbiografie erschienen, ein wuchtiges Buch, für das die Herausgeberin aus Zehntausenden Fotos aus dem privaten Archiv der Künstlerin auswählen konnte – und das Abramovic an diesem Morgen dem Journalisten in die Hände gibt.

Marina Abramović, Balkan Baroque, Juni 1997
Performance, 4 Tage, 6 Stunden, Biennale von Venedig
Foto: Attilio Maranzano, © Courtesy of the Marina
Abramović Archives / 2024, ProLitteris, Zurich

Das Gewicht des Buches ist durchaus angemessen: Marina Abramovic ist eine der bedeutendsten Künstlerinnen des letzten Jahrhunderts – als Vertreterin der Neoavantgarde, für die unterschiedliche Künstlerinnen und Künstler wie Joseph Beuys oder Andy Warhol stehen, die mit Ausnahme von Abramovic inzwischen alle tot sind. Und deren Ziel es war, Grenzen zu überschreiten, zu erweitern und zu verschieben. Erstmals kann nun eine Auswahl von Abramovics Werken ab nächster Woche in einer grossen Retrospektive in Zürich am Kunsthaus erlebt werden. 

Marina Abramovic will die Macht der Vagina darstellen

Die Nahtoderfahrung vom vergangenen Jahr hat Abramovic in ihrem unbedingten Lebenswillen bestärkt: Sie möchte über hundert Jahre alt werden, sagt sie an diesem Vormittag, «das interessiert mich». Das zusätzliche Vierteljahrhundert wird nötig sein. Denn Abramovic hat noch sehr viel vor. Zugleich hat sie grossen Spass – und zwar nicht nur, wenn sie mal wieder einen schmutzigen Witz erzählt, was sie so sehr liebt.

Als man sie in New York trifft, schliesst Abramovic gerade den Katalog für ihre Ausstellung in Shanghai ab. Parallel arbeitet sie an einem Projekt, das sie sehr stark begeistert. Darin soll es um ein altes Ritual gehen: Bei anhaltenden Regenfällen, wenn es zu Fluten kam und es nichts mehr zu essen gab, gingen die Frauen im 14. Jahrhundert auf das Feld, wo sie ihre Röcke hoben, um mit ihren entblössten Vaginas die Götter abzuschrecken. Dieses Ritual will Abramovic zusammen mit 24 Frauen auf die Bühne bringen. Vier Stunden lang. Für Abramovic geht es dabei um die «unglaubliche Macht der Vagina», die für die Künstlerin immer mit dem Mysterium des Universums, mit dem Beginn der menschlichen Existenz auf unserem Planeten und der Frage verbunden ist, was Leben ist.

Besucher in Zürich müssen Handys abgeben

Energien anzapfen, Erfahrungen und Emotionen erschliessen, die jenseits des Alltags entstehen können: Das ist auf wenige Schlagworte gebracht, woran Abramovic – über ihre unterschiedlichen Werke und Performances hinweg – seit Beginn ihrer Karriere vor etwas mehr als einem halben Jahrhundert arbeitet. Und das ist es, was sie nun auch in Zürich tun will: Hier sollen die Besucherinnen und Besucher ihre Uhren, Handys und Computer abgeben, bevor sie in der Ausstellung den Alltagsstress hinter sich lassen und Räume für neue, für andere Erfahrungen erkunden können.

Das scheint Abramovic nötig. Nicht nur angesichts der Smartphones, deren Sklaven sich nun so viele fühlen. Sondern vor allem, weil für sie die Schweiz charakterisiert ist durch Enge, also dass man wegen der Berge und Täler den Horizont nicht sieht – und weil es hier so viele mysteriöse Alltagsrituale gibt. «Alles schaut wunderbar aus, aber unter der Oberfläche gibt es viele Probleme», sagt Abramovic. Aber das ist nichts, was sie irritiert. Sondern vielmehr etwas, mit dem sie sich beschäftigen möchte. 

«Ich bin auf Stand-by, falls während meines Schweiz-Aufenthaltes etwas passiert», meint Abramovic beim Gespräch in New York. Zurzeit ist für sie vieles an der Schweiz rätselhaft. Zum Beispiel die hohe Suizidrate – und das in einem der reichsten Länder der Welt. «Haben Sie davon Kenntnis? Oder versuchen Sie, nicht daran zu denken?», fragt sie im Gespräch den Journalisten aus der Schweiz.

Männer ihrer Generation reden nur noch über Prostata

Abramovic ist seit Jahrzehnten auf Welttournee. Gebremst hat sie bisher nur die Corona-Pandemie und jüngst ihr Aneurysma: Weil sie nach der Operation nicht fliegen konnte, überquerte sie im vergangenen Jahr den Atlantik mit der Queen Mary, um in der Royal Academy of Arts ihre Retrospektive zu eröffnen, die nun – nach Stationen in London und Amsterdam – nach Zürich kommt.

Auf dem Schiff seien neben ihr und ihrem Partner nur einige wenige Klimaaktivisten gewesen, die aus ökologischen Gründen statt des Flugzeugs das Schiff für die Reise nach Europa gebucht hätten.

Ansonsten seien nur ältere Menschen auf dem Boot gewesen. Für Abramovic, inzwischen selbst in fortgerücktem Alter, war dies der Horror. «Meine Generation ist crap», sagt sie, also beschissen, «die Männer haben Prostatakrebs, Alzheimer oder beschweren sich über ihr Leben.» Im Unterschied zu ihr, die «wie die Hölle» arbeitet, seien die meisten ihrer Generation in Rente, also untätig. Jüngere Männer seien deshalb viel besser, sagt Abramovic einmal an diesem Morgen, an dem ihr 21 Jahre jüngerer Lebensgefährte ihr zum Abschied einen Kuss auf die Stirn drückt. 

Erst stritten Abramovic und Ulay, dann vergaben sie sich

Begegnungen mit Marina Abramovic sind mit einer gewissen Angst verbunden, dass es irgendwie unangenehm werden könnte, weil sie in ihren Arbeiten so radikal ist. Aber das ist ein Irrtum. Abramovic ist tiefenentspannt. Wahrscheinlich, weil sie in ihrem Arbeits- und Privatleben schon alles ausprobiert und durchgemacht hat, was möglich ist. Insbesondere mit ihrem Lebens- und Arbeitsgefährten Ulay, mit dem sie in den 1970er-Jahren zusammenkam und einige ihrer wichtigsten Arbeiten entwickelte, darunter «Imponderabilia». Also jene Arbeit, bei der eine Frau und ein Mann nackt in einem Türrahmen stehen, zwischen denen sich die Besucherinnen und Besucher hindurchzwängen müssen. 

Auf dem Höhepunkt ihrer Beziehungsgeschichte gingen Ulay und Marina Abramovic einander während 90 Tagen auf der Chinesischen Mauer entgegen. Als sie sich auf einem Bergpass gegenüberstanden, trennten sie sich, privat und beruflich. Das war im Sommer 1988. In den Jahrzehnten darauf gab es einen wüsten Streit zwischen den beiden wegen Urheberrechten an den gemeinsamen Performances, der vor Gericht endete. «Erst wollten wir uns töten, danach haben wir uns vergeben», fasst Abramovic an diesem Vormittag in wenigen Worten diese Zeit ihrer Beziehung zusammen. 

Danach war Schluss: Marina Abramovic auf der Chinesischen Mauer in ihrer Performance «The Lovers, the Great Wall» im Jahr 1988.

Ulay starb vor vier Jahren an Krebs. «Für ihn war es eine Erlösung, weil er zehn Jahre lang sehr krank war», sagt Abramovic und zeigt auf ihrem Handy das letzte Foto ihres einstigen Partners: Darauf zu sehen ist Ulay mit einer Bekannten, die ihm Schlaflieder vorsang. «Schauen Sie sich seine Augen an», sagt Abramovic. Auf dem Foto ist ein friedvoller Ulay zu sehen, der wusste, dass er bald sterben wird. «Er hatte keine Angst», sagt Abramovic. Zehn Minuten nachdem das Foto aufgenommen wurde, war Ulay tot.

Abramovic stand als Peace-Zeichen vor 250’000 Leuten

Die grossen Gesten sind im Werk von Abramovic auch nach der Durchquerung Chinas wichtig geblieben. Kürzlich etwa ist sie am Glastonbury-Festival, einem der wichtigsten Open Airs der Welt, als lebensgrosses Peace-Zeichen vor dem 250’000-köpfigen Konzertpublikum aufgetreten und hat es angesichts des Krieges im Nahen Osten zum Schweigen aufgefordert, insgesamt sieben Minuten lang: Gewalt führe zu mehr Gewalt, das Töten zu weiterem Töten, Demonstrationen würden weitere Demonstrationen nach sich ziehen, erklärte Abramovic da, «aber hier versuchen wir etwas anderes: Wir wollen den anderen unbedingte Liebe schenken.» Deshalb sollten die Besucherinnen und Besucher jeweils eine Hand auf die Schulter ihres unmittelbaren Nachbarn legen. 

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Als sie auf der Festivalbühne war, habe sie im Publikum die zahlreichen Palästina-Flaggen gesehen, erzählt Abramovic. Ihr sei klar gewesen, dass die Leute bereit waren, zu protestieren. Aber genau dagegen wollte sie mit ihrem Plädoyer für eine unbedingte Liebe ein Zeichen setzen. 

Was jetzt im Nahen Osten geschehe, sei nichts Neues in der Geschichte der Menschheit, meint Abramovic. «Es gab einen Ersten Weltkrieg, einen Zweiten Weltkrieg, einen slawischen Krieg, den Afghanistan-Krieg.» Die Namen der Kriege würden sich ändern. Aber immer führten sie zu weiterem Hass. 

Da spricht eine Künstlerin mit mehr als sieben Jahrzehnten Lebenserfahrung, die 1946 in Belgrad geboren wurde und die 1997, während des Balkankriegs, einen Berg blutiger Rinderknochen im Rahmen einer ihrer Performances zu reinigen versuchte.

Auf ihrem Handy zeigt sie dem Journalisten eine weitere Arbeit, die in diesem Zusammenhang wichtig ist: «The Crystal Wall of Crying», eine vierzig Meter lange Wand mit Kristallen. Das Denkmal soll an Babyn Jar erinnern, eines der grössten Massaker während des Zweiten Weltkriegs, bei dem über 30’000 Juden von einem Sonderkommando der deutschen Wehrmacht ermordet wurden. 

A woman prays at the Crystal Wall of Crying in the Babyn Yar memorial to mark the 83rd anniversary of the mass execution of civilians, mainly Jewish people by the Nazis during the World War II, in Kyiv on September 29, 2024, amid the Russian invasion in Ukraine. (Photo by Sergei SUPINSKY / AFP)

Als das Denkmal in Kiew eröffnet wurde, erklärten Selenski, der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und sein israelischer Amtskollege Jitzchak Herzog, die Geschichte dürfe sich nicht wiederholen. Vier Monate später griff Russland die Ukraine an. «Wenn mein Denkmal den Angriffskrieg der Russen überlebt, wird es an zwei schreckliche Momente in der Menschheitsgeschichte erinnern», sagt Marina Abramovic. 

Journalist interviewte sie nackt – um Ängste zu besiegen

Kriege kann Abramovic mit ihrer Kunst vorerst nicht beenden. «Aber ich kann Menschen befreien», sagt sie im Gespräch in New York. «Ich verändere ständig das Leben der Menschen, was daran liegt, dass es bei meiner Arbeit nicht ums Lesen geht, sondern um Erfahrung und um Emotionen.»

Als Beweis für ihre Veränderungskraft erwähnt die Künstlerin einen Geschäftsmann, der von seiner Frau einen Gutschein für einen mehrtägigen Abramovic-Workshop erhalten hatte, in dem man sein Handy und alle weiteren technischen Geräte abgibt, aufs Essen, Reden und Lesen verzichtet – und den Abramovic als «vollständiger Reset» beschreibt. Der erwähnte Manager habe zu Beginn schlechte Laune gehabt, aber dann sei er während des Workshops so enthusiastisch geworden, dass er das Abramovic-Seminar nun jedes Jahr besuche. 

Nach Jahren der Grenzüberschreitungen gefällt es der Künstlerin, wenn es andere ihr zumindest ein Stück weit gleichtun. Etwa Lady Gaga, die vor einigen Jahren einen privaten Workshop bei Abramovic buchte. Aber da war auch dieser eine holländische TV-Journalist, den sie im letzten Jahr in Amsterdam getroffen hatte und der ihr gegenüber bekannte, dass es ihm unangenehm sei, wenn er nackte Performerinnen in den Ausstellungen von Abramovic sehe.

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«Was ist falsch an Nacktheit?», fragte Abramovic den Journalisten, «wir werden nackt geboren, nun sind wir im 21. Jahrhundert und haben immer noch dasselbe shitty Problem mit Nacktheit.» Der holländische Journalist solle sich seinen Ängsten stellen, meinte Abramovic, er sollte aus seiner Komfortzone herauskommen und das Interview nackt führen. 

Tatsächlich zog sich der junge Mann darauf vor der Kamera aus und führte das Interview mit Abramovic unbekleidet. Für den TV-Journalisten war das Nackt-Interview ein Akt der Befreiung: «Gestern war einer der schönsten Tage in meinem Leben», schrieb er nach dem Interview in einer SMS an Abramovic, die sie dem Schweizer Journalisten zeigt. «Du hast mir Sicherheit gegeben, dass ich mich ausziehen und jede Sekunde geniessen kann.» Das sei doch «wunderbar», meint Marina Abramovic. 

Einige ihrer Arbeiten sind heute unmöglich – wegen des Zeitgeistes

Viele Abramovic-Arbeiten können heute nicht mehr wie ursprünglich gezeigt werden – «wegen politischer Korrektheit», wie sie sagt. Dazu gehören von der Kunstgeschichte längst kanonisierte Arbeiten wie «Luminosity», bei der eine Performerin nackt auf einem Fahrradsattel sitzt, die Arme und die Beine von sich gestreckt.

Ursprünglich hat Abramovic die Performance ausgeführt, sechs Stunden lang, ohne Unterbrechung. Die Künstlerinnen, die nun ihre Arbeiten in der Retrospektive performen, dürften das Werk nur noch eine halbe Stunde ausführen, dann müssten sie Pause machen – wegen der Arbeitsverträge und der notwendigen Versicherungen. Ähnlich ist das auch bei der Arbeit «Imponderabilia», die erstmals 1977 in Bologna von Abramovic und Ulay bestritten wurde: Neben dem Türrahmen mit den beiden Nackten muss es nun einen zweiten Durchgang geben, für all jene, die sich nicht zwischen der nackten Frau und dem nackten Mann hindurchbewegen möchten. 

Ulay / Marina Abramović, Imponderabilia, 1977
Performance, 90’, Galleria Comunale d’Arte Moderna,
Bologna
Fotos: Giovanna Dal Magro, © Courtesy of the Marina
Abramović Archives / 2024, ProLitteris, Zurich

Bei Marina Abramovic hat die spitze Bemerkung gegen den politisch korrekten Zeitgeist nichts Kulturkämpferisches. Das wäre ihr wohl viel zu kleingeistig. Bei ihr ist es eher ein amüsiertes Erstaunen, dass das, was sie vor gut fünfzig Jahren als Speerspitze der europäischen Avantgarde machte, heute nur in einer gedämpften Version gezeigt werden darf. Abramovic musste sich entscheiden, ob sie die Arbeiten gar nicht mehr zeigen «oder ob ich einen gesunden Kompromiss machen will». Die Künstlerin, die mit ihrer Radikalität den allermeisten von uns etwas voraushat, hat sich für Letzteres entschieden. Auch für Zürich, wo das Schweizer Publikum nun «Luminosity», «Imponderabilia» und weitere Arbeiten erleben kann.