Mamablog: Dokfilm über Jugendpsychiatrie«Viele Jugendliche hatten keine Chance, einer psychischen Krankheit zu entkommen»
Der Film «Wenn's eng wird» zeigt den Alltag einer Station der Basler Jugendpsychiatrie. Wir haben mit den Machern über ihre Eindrücke, belastende Momente und persönliches Schubladendenken gesprochen.
Die beiden Filmschaffenden Deborah Neininger und Jan Sulzer widmeten drei Jahre einem Dokumentarfilm über eine Station der Kinder- und Jugendpsychiatrie Basel. Ihr Werk «Wenn's eng wird» ist eine intime Langzeitbeobachtung, die zur Selbstreflexion anregt. Dabei stehen die Sozialpädagogin Marion und der Psychiatriepfleger Andreas im Mittelpunkt, die sich beide einfühlsam den Sorgen, Ängsten und Suizidgedanken ihrer jungen Patientinnen und Patienten widmen. Noch nie zuvor hat ein Filmteam eine Psychiatrie über einen so langen Zeitraum «beobachtet». Dabei legten die beiden Schöpfer von Anfang an Wert auf eine ausführliche und nuancierte Darstellung des Klinikalltags, ohne in Voyeurismus oder Skandalisierung zu verfallen. In unserem Gespräch teilen sie ihre Erfahrungen.
Warum haben Sie einen Film über die Kinder- und Jugendpsychiatrie gedreht?
Deborah Neininger: Die Psychiatrie als aussergewöhnlicher Ort hat mich schon immer beschäftigt. Die Kinder und Jugendlichen haben vor ihrem Eintritt meistens schon einen sehr langen Weg hinter sich und sehr unterschiedliche Voraussetzungen. Auch der Gedanke, in der Psychiatrie tätig zu sein, hat mich stets gereizt. Ich habe mich schon lange gefragt, wie es ist, mit so verletzlichen Menschen zu arbeiten, die in jungen Jahren bereits so viele Lebensgeschichten mit sich tragen. Mit diesem Film möchten wir zur Reflexion über diese und andere Aspekte der Kinder- und Jugendpsychiatrie anregen.
Im Film werden Therapie- und Eintrittsgespräche mit Eltern und Kindern während ihres Aufenthalts gezeigt. Wie empfanden Sie die Eltern in diesen Situationen?
Deborah Neininger: In diesen Momenten erleben einige Eltern sowie auch Jugendliche die Psychiatrie als eine willkommene und lang ersehnte Entlastung. Sie bietet die Möglichkeit, für eine Weile aus dem alltäglichen Umfeld, den belastenden Ängsten, Schwierigkeiten und Sorgen zu entkommen. Ein Kind mit einer psychischen Erkrankung stellt oft eine enorme Herausforderung dar, und vielen Eltern bleibt kaum Zeit für sich selbst oder die Ausübung einer beruflichen Tätigkeit. Bei anderen Eltern ist der Eintritt in die Psychiatrie mit erheblichem Zwang und bestimmten Massnahmen verbunden, was auf Widerstand stösst. Für viele Kinder und Jugendliche stellen die Regeln und Hierarchien in psychiatrischen Einrichtungen zweifelsohne eine Herausforderung dar, genauso wie der Aufbau von Vertrauen und Beziehungen zu den Betreuungspersonen. Für Eltern wiederum ist das Vertrauen in diese Einrichtungen von entscheidender Bedeutung.
Die sogenannte fürsorgliche Unterbringung (FU) in einer Psychiatrie, die aufgrund akuter Selbst- oder Fremdgefährdung vorgenommen werden kann, ist eine Zwangsmassnahme. Wie sehen Sie diese Praxis?
Jan Sulzer: Ich habe einige Zeit in der Psychiatrie als klinischer Heilpädagoge gearbeitet und habe Zwangseinweisungen immer sehr ambivalent erlebt. Meiner Meinung nach sollte eine fürsorgliche Unterbringung stets die letzte Lösung sein, und das nur dann, wenn eine akute Suizidalität oder eine ernsthafte Bedrohung für andere vorliegt. Meiner Überzeugung nach sollte eine solche Massnahme nicht ergriffen werden, wenn jemand einen unkonventionellen Lebensstil führt oder die Öffentlichkeit stört. Zwangsmassnahmen können sich auch kontraproduktiv auswirken, da sie es den Betroffenen schwerer machen, Beziehungen einzugehen und sich auf Therapien einzulassen, im Vergleich dazu, wenn sich jemand freiwillig darauf einlässt.
Wir sprechen in unserer Gesellschaft oft von «normal» und «krank». Hat sich Ihre Sicht auf diese Begriffe durch die jahrelange Begleitung psychisch Kranker vor der Kamera verändert?
Deborah Neininger: Die Frage, was normal ist und was nicht, hat mich während des Drehens und bis heute stark beschäftigt. Und sie ist bis heute nicht abschliessend beantwortet. Ich würde beispielsweise nie von mir behaupten, «normal» zu sein. Ich wüsste nicht einmal, ob ich das überhaupt möchte. Unsere Gesellschaft richtet sich jedoch stark nach der Norm aus, wobei als normal gilt, eine gewisse Leistungsfähigkeit zu haben, keine Krankheit oder Behinderung zu haben oder nur in bestimmten Berufen tätig zu sein. In Wirklichkeit bewegen sich jedoch viele Menschen in einem breiten Spektrum und weichen in verschiedenen Aspekten von dieser Norm ab. Das gilt auch für uns.
«Es hängt nicht alles vom eigenen Willen oder den eigenen Stärken ab.»
Liess Sie das Drehen mit den Jugendlichen auch an Ihre eigene Jugend denken? Und wie hat das Ihre Sicht auf die Faktoren beeinflusst, die darüber entscheiden, ob der Lebensweg gut oder schlecht verläuft?
Deborah Neininger: Beim Drehen kam mir oft meine eigene Jugend in den Sinn, und ich habe mich gefragt, ob mein Leben ähnlich verlaufen wäre, wenn die Psychiatrie eine Rolle darin gespielt hätte. Vielleicht hätte mir dies geholfen, oder es hätte mich negativ beeinflusst. Das Filmen der Psychiatrie hat mir bewusster gemacht, wie viele verschiedene Faktoren im Leben zusammenspielen und darüber entscheiden, ob der Weg gut oder schlecht verläuft. Es hängt nicht alles vom eigenen Willen oder den eigenen Stärken ab. Ich habe viele Jugendliche beobachtet, die keine Chance hatten, einer psychischen Krankheit zu entkommen. Beispielsweise Kinder, die in wenig privilegierten Verhältnissen aufgewachsen sind und ihre eigenen psychisch kranken Eltern gepflegt haben, die Gewalt und Missbrauch erlebt haben oder genetische Anlagen und vererbte psychische Krankheiten hatten, für die sie nichts konnten. Letztendlich hängt der Lebensweg stark davon ab, welche Ressourcen man von Geburt an mitbringt und welche Menschen einen auf dem Lebensweg begegnen.
Sie zeigen in Ihrem Film immer wieder die beiden Psychiatrie-Mitarbeitenden Andreas und Marion. Beide sind sehr direkt mit den Jugendlichen, manchmal kumpelhaft, manchmal aber auch streng. Was hat Sie an den beiden so fasziniert?
Jan Sulzer: Die beiden haben die Kameras total vergessen, wenn wir drehten. Sie haben auch unter Beobachtung natürlich mit den Jugendlichen gearbeitet. Das zeigte uns, dass sie ein gesundes Selbstbewusstsein haben und hinter ihrem Tun stehen. Wir zeigen im Dokfilm auch, dass sie die Beziehung zu den Jugendlichen oft höher werten als die penible Einhaltung der Klinikregeln. Andreas gerät einmal in einen Wutausbruch, weil er mit einem Bewohner an seine Grenzen kommt. Sie schaffen aber auch Empathie und Vertrauen dadurch. Wir wollten zeigen, dass in diesen Institutionen Menschen mit all ihren Ecken und Kanten arbeiten. Die Klinik, die wir dokumentierten, war eine sehr offene Klinik. Das Haus war integriert in einer Wohnsiedlung und die Räume waren sehr wohnlich, wie in einem Zuhause. Das machte die Zusammenarbeit zwischen den Mitarbeitenden und Jugendlichen sehr nah. Leider gibt es diese Klinik in dieser Art heute nicht mehr. Sie ist nun umgezogen in einen grossen Neubau, was ich sehr bedaure.
Gab es auch Momente, die euch belastet oder traurig gemacht haben?
Deborah Neininger: In der Klinik gab es einige Kinder, die Suizidgedanken hatten oder sich selbst verletzen. Wir filmten einen 12-jährigen Jungen, der sich intensiv damit auseinandergesetzt hatte, wie er sich umbringen könnte. Er kannte jegliche Wege in den Suizid. Das hat mich sehr beschäftigt. Oder es gibt eine Szene, in der ein Jugendlicher Marion seine Hand zeigt, damit sie diese verbinden kann. Er drückte sich mehrmals Zigaretten in die Handinnenfläche und hatte Verbrennungen. Marion macht ihm jedoch keine Vorwürfe, sie zeigt ihm zwar, dass sie betroffen ist, aber sie bewertet und verurteilt ihn nicht, sondern verbindet ihm einfach die Hand. Das hat mich bewegt.
Jan Sulzer: Was wir im Film nicht zeigen: Es gab während der Zeit einen Suizid im Haus. Es war der erste Suizid seit 20 Jahren in dieser Klinik. Das war sehr schlimm und wir konnten zusehen, wie verantwortlich sich die Mitarbeitenden und auch die Therapeutinnen fühlten. Sie gaben sich selbst einen Teil der Schuld und waren auch danach sehr besorgt, dass sich ein solches Drama wiederholen könnte. Für mich zeigte das auf, wie gross die Verantwortung ist, die auf Kliniken und Mitarbeitenden lastet. Wenn ich heute in der Stadt zufällig einem der Jugendlichen begegne, der damals in der Drehzeit in der Klinik war, bin ich froh zu sehen, dass er noch auf dem Planeten ist. Ich kenne einen bestimmten Teil seiner Geschichte, von aussen lässt sich diese aber sehr oft nicht im Geringsten vermuten. Mich hat das gelehrt, Menschen nicht vorschnell in Schubladen zu stecken. Wir sehen einen Jugendlichen und bewerten diesen automatisch, wir haben jedoch keine Ahnung, was dieser Mensch erlebt hat und was in ihm vorgeht.
Der Film «Wenn's eng wird» ist 2023 erschienen, weitere Kinovorstellungen folgen 2024. Mehr Infos zum Film finden Sie hier.
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