Mamablog: Brief an die Grossmutter«Am Sonntag hast du Zucker in die Salatsauce gestreut»
In einem Brief an ihre verstorbene Grossmutter reflektiert unsere Autorin über Lebensbedingungen, Materialismus und Konsum – gestern und heute.
Liebe Grossmama,
in meinen jungen Jahren, damals, als ich auf immer noch abenteuerlichen Reisen die Welt erkundete, besuchte ich dich nach meiner Rückkehr jeweils im Altersheim, um dir davon zu erzählen. Und immer hast du darauf auf die gleiche Weise reagiert. Du schobst trotzig die Unterlippe nach vorn und murmeltest: «Ich bin nur einmal im Tessin gsi und trotzdem alt worde!» Dabei betontest du das S bei Tessin statt das I, was noch ein weiteres Stück Fremdheit zwischen uns schob und nicht nur unseren Altersunterschied, sondern vor allem unsere so anderen Lebensbedingungen zementierte.
Du, die den Krieg, den Hunger kannte. Du, die jedes Geschenkpapier nach Verwendung für die nächste Weihnacht gebügelt hat, bis es irgendwann so dünn war, dass das Geschenk darunter von weitem sichtbar war. Du, deren Mann, mein Grossvater, morgens zwei Stunden zu Fuss in die Fabrik lief und abends zwei Stunden wieder zurück. Du, die ein Kind verloren und den Schmerz darüber für dich behalten hat.
Ich vergesse nie, wie stolz du auf die teure Raviolibüchse warst.
Am Sonntag hast du jeweils Zucker in die Salatsauce gestreut, weil Zucker etwas Festliches war. Und ich vergesse nie, wie stolz du auf die teure Raviolibüchse warst, weil sie von Modernität und Luxus sprach, während heute Zucker und Dosenfutter böse sind und die Leute im Bus nicht aufschliessen, weil sie nicht in drei, sondern in zweidreiviertel Minuten im Büro sein wollen.
Dein Leben war oft karg und hart, voller Moral und wenig Freiheit. Ich ahne, dass sich deine Unterlippe auch verständnislos nach vorne bewegte hätte, könnte ich dir sagen, dass ich im Gegensatz zu dir am «zu viel» und nicht am «zu wenig» leide. Du würdest das undankbar finden, weshalb ich dir die Hintergründe erklären möchte.
Du musstest sehr bescheiden haushalten, um irgendwie über die Runden zu kommen. Die Nachkriegsgeneration, zu der meine Eltern gehören, reagierte auf diese Kargheit, indem sie durch harte Arbeit den Mangelzustand beendete und sich immer mehr leisten konnte. Ich, als ihr Kind, konnte mich einfach ins weiche Nest setzen und hatte nichts weiter zu tun, als den Anforderungen von Wirtschaft und Gesellschaft zu folgen. Das schien zunächst leicht zu sein, denn die Belohnung war, dass ich weit über das Tessssin hinaus reisen konnte und so viel mehr Lebensentwürfe kannte als du.
Doch das immer raschere Tempo, die wachsende Komplexität, globale Widersprüche, und der Raubbau an der Erde – alles zugunsten unseres Wohlstands – hatte ihren Preis. Diese Entwicklung führt bei Mensch und Natur zu Erschöpfung, zur Erschöpfung der Ressourcen und einiger Kräfte, die dir noch so nahe waren. Für dich war es das Grösste, deinen Kindern etwas bieten zu können. Für mich gehört es zu meinen grundlegenden Aufgaben als Mutter, die unaufhörliche Flut von Materialismus, Digitalisierung und Informationen auf ein Mass zu begrenzen, das für uns und unsere Umwelt verträglich ist.
Du hast Obst vom Boden zu Confi verarbeitet. Ich überlege, ob die Bio-Confi aus Frankreich oder die normale aus der Region ökologischer ist.
Wie kann ich Dir erklären, Grossmama, dass das Wissen über den fragilen Zustand unserer Erde, die Sehnsucht nach mehr Langsamkeit und echtem Leben oft diametral zu den immer schnelleren Anforderungen, dem verinnerlichten Drang zur Optimierung und der Omnipräsenz des Digtalen steht? Manchmal bringen meine Kinder eine Ausbeute von «Gratis-zum-Mitnehmen-Spielwaren» heim, mehr als du in deiner ganzen Kindheit an Weihnachtsgeschenken hattest. Du würdest wahrscheinlich begeistert in die Hände klatschen und den Wert dieser Gratisgeschenke mit den Kosten von neuem Geschenkpapier aufrechnen.
Aber weisst du, je mehr wir haben, desto mehr verlieren wir oft das Bewusstsein für den eigentlichen Wert. Tatsächlich behaupte ich sogar, dass «zu viel» heute das neue «zu wenig» ist. Du hast Obst vom Boden zu Confi verarbeitet. Ich stehe vor dem Supermarktregal und überlege, ob nun die Bio-Confi aus Frankreich oder die normale aus der Region ökologischer ist. Und je mehr ich weiss, desto mehr Fragen tun sich auf.
Ja, liebe Grossmama, du bist in Zeiten des Mangels aufgewachsen, meine Eltern in der Sehnsucht nach der Überwindung des Mangels, und ich mitten in den Wohlstandszeiten. Die heutigen Kinder hingegen sehen sich mit den Folgen unserer Lebensweise konfrontiert. Doch wie wir werden auch sie einen Weg finden, mit den Herauforderungen ihrer Zeit umzugehen, und langfristig wird «Weniger» vielleicht als «Mehr» gelten. Schade, dass ihr euch darüber nicht mehr austauschen könnt.
In Liebe,
deine Sabine
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