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Wie weiter in der Musikindustrie?
«Wir gehen unter in einem Ozean von musikalischem Datenmüll»

«Fuck the Musikindustrie!»: Während im Schiffbau über die Zukunft der Musik diskutiert wird, wird auf der Aussenbühne auch schon mal laut geschimpft.
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Dass so eine Musikmesse das Zeug hat, Illusionen zu zerbröseln, das hätte man ahnen können. Trotzdem ist das Bild herzergreifend: Eine Gruppe Jungmusiker hat sich müde auf ein bereitgestelltes «Freitag»-Sitzmöbel gefläzt, starrt mutlos in die Weiten des Raumes und versucht zu verdauen, was da eben besprochen worden ist.

Es ist Samstagnachmittag, kurz nach 13 Uhr, und die Box des Zürcher Schiffbaus ist besser belegt als an einem sehr gedeihlichen Kulturanlass. Im Publikum: Teile des Schweizer Popmusikschaffens. Auf der Bühne: ein Diskussionskränzchen, das werweisst, wie man dem landläufigen finanziellen Darben der Musikerinnen und Musiker dieses Landes ein Ende bereiten könnte. 

Eine von ihnen rechnet gerade aus, welche Aufwendungen zum Gelingen eines Konzerts so zusammenkommen, spricht von Wochenendzulagen, von Anfahrtsweg, Präsenzzeiten, Recherchekosten und sogar vom Fitnessprogramm, ohne das man auf der Bühne schliesslich nicht bestehen könne.

Sie kommt zum Schluss, dass einem im Minimum 800 Franken Gage pro Person zustehen müsste, und man solle sich keineswegs scheuen, diese auch einzufordern. Da hat sie die Rechnung nicht mit dem mitdiskutierenden Clubbetreiber gemacht: «Wenn wir solche Gagen bezahlen müssten, würde es uns morgen nicht mehr geben. Oder wir würden ganz einfach eine deutsche Band buchen, die für 200 Franken pro Person auftritt», erwidert dieser. «Auf welchem Planeten lebt ihr eigentlich?»

Ein Land der Feierabendmusik

Das nette Gedankenspiel landet zerzaust auf dem Utopiekompost. Die Wahrheit ist schäbig und schlicht: Der Wert eines Live-Acts ergibt sich nicht aus der Summe von Arbeitsstunden und Fitnessstand, er errechnet sich ganz pragmatisch aus der Anzahl Tickets, die er verkauft. Ganz egal, ob da eine zehnköpfige Band mit Visual Artist und fünf synchron tanzenden Theremin-Spielerinnen den Abend gestaltet oder bloss ein DJ, der zwischendurch ein Gesangsmikrofon behändigt. 

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Es gibt nicht viele Berufsgruppen, bei denen Hoffen und Wirklichkeit so weit auseinanderklaffen wie in jener der Popmusikschaffenden. Bezahlte Proben wie im Klassikbereich? Träum weiter. Ein Budget für die Phase der kreativen Stückentwicklung wie im Theater? Vergiss es. Etwas mehr Geld aus dem Kulturfördertopf als die 1 bis 2 Prozent, die derzeit für diese Sparte ausgeschüttet werden? Da könnt ihr noch lange warten.

Irgendwann kommt die Runde zum Schluss, dass es für Schweizer Musikschaffende womöglich doch besser sei, sich noch einen Zweit- oder Drittjob zuzulegen. Da haben wirs also wieder: Die Schweiz ist trotz der vergleichsweise fürstlichen Musikförderung ein Land der Feierabendmusikanten. Es wird wohl Zeit, sich langsam damit abzufinden.

Probleme mit Nemo

Wir sind am M4Music, dem grossen Branchentreffen der Schweizer Popmusik. Hier werden die Sorgen und Nöte der Musikschaffenden auf den Diskussionstisch gebracht, während auf den Bühnen musiziert und in den Gängen geklagt, geschäftet, gedatet und gelästert wird. 

In einer kleinen Plauder- und Rauchergruppe vor dem Schiffbau wird gerade erleichtert festgestellt, dass das Thema kulturelle Aneignung momentan eine leichte Aufmerksamkeitsbaisse erlebt. Daneben tauscht sich Nemo vergnügt mit anderen Musikerinnen aus. Von ihm hat zuvor ein hochtrabender Herr in einer anderen Small-Talk-Runde behauptet, dass er der kommende Eurovision-Song-Contest-Sieger sein wird. «Todsicher.»

Andernorts wird wieder einmal über SRF3 und über die SRG geschimpft. Dabei wird die Frage aufgeworfen, ob dieser Betrieb im Falle eines Nemo-Sieges und eines Abstimmungsdesasters überhaupt noch Geld hätte, sich vermehrt um die Schweizer Musikszene zu kümmern, was sie zuvor in einer Vereinbarung feierlich bekundet hatte. 

Erste Ermüdungserscheinungen

Ein ganz anderes Problem plagt die Konzerthäuser. Das Konzept, mit Bierausschank und 90s-Partys Konzerte querzufinanzieren, gehe irgendwie nicht mehr auf. Die Partylaune des Schweizervolkes scheint weiterhin etwas gedämpft zu sein. Ein anderer Diskussions-Evergreen ist der Umstand, dass immer mehr Exponenten der Szene mit Ermüdungserscheinungen zu kämpfen haben und sich eine Auszeit nehmen müssen. Man ist zermürbt vom ständigen Output-Zwang, sei es musikalisch, konzertant oder auf Social Media. 

Für dergestalt geplagte Seelen muss der Workshop «Tiktok als Karrierebooster» anmuten wie ein Präzisionsschlag in die bereits schwammigen Kniekehlen. Wer meint, er könne sich nebenbei ein bisschen mit Tiktok beschäftigen, der müsse sich nicht wundern, wenn seine Karriere gerade am Zusammenbrechen sei, sagt der Referent und löst ein betretenes Auf-den-Boden-Starren älterer Teilnehmender aus. Es gebe eine Million 20-Jähriger, die sich auf ihrem Handy einen Song basteln, diesen auf Tiktok laden und alle hier links und rechts überholen würden, fügt er an: «Denen ist scheissegal, was sie posten, wie gut ihr Song ist und welche Reaktionen sie auslösen. Sie tun es einfach.»

Facebook, Instagram, das sei übrigens alles yesterday. Einzig Tiktok verspreche Gedeih im Erlangen von Fame und Aufmerksamkeit. Und wenn man mal drei Monate Tiktok-Pause machen würde?, fragt ein Anwesender scheu. Dann beginne man quasi wieder bei null, ist die niederschmetternde Antwort. 

Teenies übernehmen die musikalische Weltherrschaft

Eine alte Erfolgsformel der Musikbranche lautete bisher: 10 Prozent ist Glück, 10 Prozent ist Talent, und 80 Prozent ist harte Arbeit. Sie stimmt immer noch, nur wird gerade dem Hintersten und der Letzten bewusst, dass die 80 Prozent Arbeit darin bestehen, jeden Tag fünf Videos auf Tiktok hochzuladen. Ansonsten übernehmen die Teenies mit ihren Spielzeugsongs endgültig die musikalische Weltherrschaft.

KI und Atombomben: Der Mann hinter der Kunstfigur Angela Aux erklärt, was uns drohen könnte.

Die Übernahme der Weltherrschaft droht bekanntlich noch von anderer Seite. Gleich zwei Panels behandeln die Frage, ob die künstliche Intelligenz die Musikschaffenden tatsächlich bald arbeitslos machen wird. Aber auch, welch praktischen Segen sie für den kreativen Prozess bedeuten könnte. Zuerst darf der deutsche Musiker Angela Aux ran, der unter diesem Pseudonym die KI für sich musizieren lässt.

Sein Referat wird zum flammenden Plädoyer, die neue Technik zu nutzen und mit Kunst zu füttern. Denn wenn man sie den Militärs oder sonstigen Bösewichten überlasse, drohe quasi eine digitale Atombombe. Eine mögliche Zukunft sieht er so: Man bastelt sich mit der KI seine Wunschband zusammen, zum Beispiel eine Bassistin oder einen Schlagzeuger, die man so trainiert hat, dass sie spielen, was man am liebsten mag. Alle hätten Zeit zum Proben, wann immer man das wolle. Unser Musikgeschmack werde also im Grunde selber unsere Musik komponieren. Angst davor haben? Nein. Die Technologie gehe doch allermeist dahin, wo die Wünsche der Menschen seien. Seine KI-Zukunftsmusik hört sich übrigens lustigerweise an wie sonderbar verrauschte Folkmusik aus den Sechzigerjahren. 

Der Untergang

Man sei mit der Politik am Verhandeln, wie man musikalische Werke davor schützen könne, von der KI einverleibt zu werden, wird in einer anderen KI-Runde verlautbart. Doch wie schlecht die Aussichten sind, dies alles unter Kontrolle zu halten, offenbart das Statement von Samim Winiger, der einst bei Google AI generative Anwendungen entwickelt hat: Er könnte heute problemlos einen Schwall an Musik generieren, die zu einem frei wählbaren Prozentsatz so klingen würde wie Drake, ohne dass die ausführende KI von dessen Musik trainiert worden sei. «Dann könnte ich einen Bot beauftragen, der pro Woche 200’000 dieser Songs auf Spotify lädt, und wir würden untergehen in einem Ozean von musikalischem Datenmüll.» Die eh schon kümmerlichen Margen echter Kreierender würden zusätzlich verwässert, und solange keine globale Aufsicht installiert werde, sei dem Wildwuchs Tür und Tor geöffnet. Ein metaphysisches Gruseln breitet sich im Publikum aus.

Fazit hier: Dieser Digitalisierungsschritt wird wohl tatsächlich sehr viele Stellen und einige Musikerseelen kosten. Und so wie der Gewinn einer App, die Anwaltsaufgaben erledigt, eher nicht in die Kassen der arbeitslos gewordenen Juristen und Juristinnen fliessen wird, wird vermutlich auch die Verteilung an die Musikschaffenden scheitern. Was tun? Vermutlich müsse man dann vielleicht doch irgendwann ein Grundeinkommen für alle einführen, meint der Ethikprofessor.

Auf der Bühne vor dem Schiffbau ist derweil die Hooligan-Rapperin Nathalie Froehlich aus Lausanne dabei, ihr Showcase-Set zu beenden. Sie baut sich vorne an der Bühne auf, ist bei gefühlten 0 Grad nur noch in einen BH gehüllt und schreit zum Gabber-Beat ihres DJ ins Mikrofon: «Wir sind seit drei Jahren auf Tournee, haben kein fucking Geld. Aber immerhin haben wir ganz viel Liebe bekommen. Fuck the Musikindustrie! Fuck everyone! Just have fun!»

Ein Satz, der für einen kurzen Moment den Zukunftskummer aus den Köpfen schüttelt. Aber nur für einen sehr, sehr kurzen Moment.