Serie: Unsere DialekteLuzerndeutsch ist Emil-Deutsch
Die Luzerner Mundart ist ein Weder-Fisch-noch-Vogel-Dialekt. Warum gerade das so toll ist, erklärt der berühmteste lebende Luzerner: Emil. Und die Germanistin Helen Christen erläutert, was es mit «gruisige Suichäibe» in anderen Innerschweizer Kantonen auf sich hat.
Sehr auffällig klingt der Luzerner Dialekt nicht. Das sagt auch Helen Christen, die Expertin der heutigen Folge unserer Schweizer-Dialekt-Serie. Christen ist Germanistin und Dialektologin und spricht selbst Luzerner Mundart. «Als Mittellanddialekt hat Luzerndeutsch sowohl Eigenschaften westlicher als auch östlicher Mundarten», sagt Christen. Bevor wir näher darauf eingehen, stellen wir aber wie üblich die Frage nach der Beliebtheit.
Wie beliebt ist Luzerndeutsch?
Die linguistische Mittelstellung der Luzerner Mundart widerspiegelt sich auch in ihrer Beliebtheit: Es fällt schwer, sie hässlich zu finden, aber sie hat auch wenig, was in der übrigen Schweiz als auffallend oder sonst wie besonders charmant gelten könnte. «Extrem positive oder extrem negative Wertungen provoziert der Luzerner Dialekt nicht», sagt Christen. Bezeichnend sei, dass der Schauspieler und Komiker Walter Andreas Müller, der häufig die Dialekte von Politikern nachgeahmt habe, über die Bundesräte gesagt habe: «Den Villiger, den schaffe ich nicht.»
Christen vermutet, dass viele Nichtluzernerinnen und Nichtluzerner sich damit behelfen, die Luzerner Mundart an bekannten Personen festzumachen, allen voran Emil. «So wie Emil redet, das ist dann einfach prototypisch Luzerndeutsch.»
Wie Luzerndeutsch klingt
Als Beispiel für ein östliches Merkmal nennt Christen Wörter wie «Lehrer» oder «See», bei denen der betonte Vokal in der Luzerner Mundart wie im Zürcher oder in anderen östlichen Dialekten gesprochen werde – und nicht wie etwa im Berndeutschen mit einem offeneren «Lèèrer» oder «Sèè».
Ein Gegenbeispiel ist die Vokalisierung des l, wie in «Möuch» (Milch) oder «Vogu» (Vogel) – hier folgt der Luzerner Dialekt mehrheitlich der westlichen Berner Variante. Je nach Gebiet oder Ort innerhalb des Kantons können westliche oder östliche Eigenschaften häufiger und deutlicher sein, und für manche Regeln findet sich eine Ausnahme. «Im Entlebuch zum Beispiel sagt man, anders als im übrigen Kanton, ‹Lèèrer›», erklärt Christen. Im Gebiet um Weggis und Vitznau hingegen seien Formen wie «buue» (bauen) üblich, was den Mundarten aus Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden entspreche.
Ein grosses dialektologisches Thema sind die Pluralendungen, von denen östliche Dialekte eine besitzen («mir, iir, sie mached») und westliche zwei («mir mache, diir mached, si mache».) Diese Grenzlinie verläuft mitten durch den Kanton Luzern. Christen sagt, sie konjugiere Verben manchmal «westlich» und manchmal «östlich», womit auch dieses Beispiel zeigt: Luzerndeutsch ist ein typisch mittelländischer Zwischendialekt.
Gibt es trotzdem Phänomene, die exklusiv sind für die Luzerner Mundart? Ja, die gibt es. Christen nennt zwei: Die Aussprache «ängg» für «eng» sowie einen Diminutiv mit «a», etwa in «Mäitali» (statt «Mäiteli», kleines Mädchen) oder «Hündali» (Hündchen). Das Entlebuch sei zwar auch hier eine Ausnahme, dort sage man «Meitili», aber ansonsten trete dieses Phänomen im ganzen Kanton auf.
Ein kniffliges Detail ist folgendes: Im Luzerndeutschen werden – wie in den westlichen Dialekten – die betonten Kurzvokale i und u gesenkt. Die dialektale Verbform von «sind» schrieben Luzernerinnen und Luzerner deshalb oft «send», und aus «Luzern» werde aus demselben Grund «Lozärn». Ein gesenktes i oder u, erklärt Christen, entspreche aber noch lange nicht dem hochdeutschen Laut, der als e (z. B. in «Bett») oder als o (z. B. in «Socke») geschrieben werde. Anders ausgedrückt: Wenn Auswärtige «send» und «Lozärn» lesen und dann nach den Regeln des Hochdeutschen aussprechen, dann greifen sie mit allzu offenen Lauten daneben und scheitern bei ihrem Versuch, den Luzerner Dialekt nachzuahmen.
Wortschatz – die Sache mit «rüüdig»
Apropos Auswärtige: Es gibt ein Wort, das Nichtluzernerinnen und Nichtluzernern mit der Unvermeidbarkeit eines Kniereflexes einfällt, wenn sie den Begriff «Luzerner Dialekt» hören: «rüüdig», für «sehr». «Es rüüdig guets Buech, rüüdig schöns Wetter.» Was hat es damit auf sich? Laut Christen stammt «rüüdig» als Verstärkungsvokabel ursprünglich aus der Jugendsprache. Es sei in den 1950er oder 1960er zu einem alltagssprachlichen Synonym für «sehr» geworden, ähnlich dem heutigen «mega». Dabei habe es das ältere «usinnig» verdrängt. Eine oder zwei Generationen zuvor habe «rüüdig» noch als vulgär gegolten.
Erstaunlich ist: Ähnliche schweizerdeutsche Wörter aus der Mitte des letzten Jahrhunderts (etwa «bäumig» oder «tschent») sind heute verschwunden und werden höchstens noch gebraucht, um sich über ältere Generationen lustig zu machen. «Rüüdig» hingegen hat sich gehalten, auch wenn es laut Christen im Alltag allmählich seltener wird und Junge es kaum mehr verwenden. Hingegen werde es, vor allem während der Fasnacht, als verbales Kennzeichen für das Luzernertum schlechthin eingesetzt. Ein solches Kennwort heisst in der Fachsprache Schibboleth.
Als weitere exklusiv luzernische Wörter nennt Christen «Schiner» (oder«Schinner») für einen geflochtenen Korb mit zwei Henkeln sowie «Wängerli» für ein kleines Kopfkissen. Letzteres sei aber nicht mehr gebräuchlich, nur schon weil es die Sache nicht mehr gebe.
Schweizweit einzigartig sind laut Helen Christen folgende Pluralformen des Verbes «sein»: «mir sei, iir seit, sie sei», die allerdings nur im Amt Willisau im Nordwesten des Kantons – auch Luzerner Hinterland genannt – heimisch sind. Jemand aus der Stadt und Agglomeration Luzern, aus dem Suren- oder Seetal hingegen sagt «mir sind». Typisch fürs Entlebuch und für übrige Schweizer Ohren seltsam klingend sind Verbformen wie «mir gai» (wir gehen) oder «mir schlai» (wir schlagen), die es so ausschliesslich zwischen Wolhusen und Escholzmatt-Marbach gibt.
Die übrigen Innerschweizer Dialekte
Aus linguistischer Sicht kann man die übrigen Innerschweizer Dialekte eigentlich nicht unter demselben Kapitel abhandeln wie die Luzerner Mundart. Wir tun es trotzdem und berufen uns dabei auf die Geografie – und auf den Umstand, dass auch die schönste Serie nicht ausufern sollte.
Aber es stimmt schon: Der Urner und der Schwyzer Dialekt sowie die Mundarten aus Nid- und Obwalden gehören zu den höchstalemannischen Dialekten, sind also verwandt mit dem Walliserdeutschen und dem Berner Oberländischen. Der Luzerner Dialekt hingegen ist eine hochalemannische Sprachvariante.
Es würde zu weit führen, sämtliche Unterschiede zwischen Hoch- und Höchstalemannisch aufzuzählen, deshalb beschränken wir uns auf einige wenige: Höchstalemannische Dialekte haben in bestimmten Wörtern keine Diphthongierung, man sagt also «schniie» und «buue» statt «schneie» (schneien) und «baue» (bauen). Statt «morn» (morgen) sagt man im Höchstalemannischen Dialektgebiet «moore», und im Walliserdeutschen gibt es nicht zwei Pluralformen, sondern sogar drei: «wier mäche, ier mächet, schii mächunt».
«Dui gruisige Suichäib, dui»
Prägnant an den Innerschweizer Dialekten ist das Vokalsystem, etwa die Diphthongierung oder Umlautung von u. Im Ob- und Nidwaldner Dialekt sagt man «Muis» (Maus) oder «gruisig» (grausig, widerlich), auf Urnerdeutsch hingegen «Müüs» (im Singular notabene). Und im Kanton Schwyz klingt es wie in der Restschweiz, also «Muus». Aber bevor es zu kompliziert wird, unterscheiden wir die Innerschweizer Dialekte anhand eines einzigen Satzes.
Auf Nid- und Obwaldnerdeutsch heisst er: «Dui gruisige Suichäib, dui.» Auf Urnerdeutsch: «Dü grüüsige Süüchäib, düü.» Und im Kanton Schwyz heisst das: «Du gruusige Suuchäib, duu.»
Ein häufiges Merkmal von innerschweizerischen Dialekten sind Entrundungen von Umlauten, wie es sie auch im alten Baseldeutsch gibt: «de Getti» (der Pate), «s Hiisli» (das Häuschen).
Helen Christen betont, daneben gebe es zahlreiche lokale Phänomene, etwa in Einsiedeln oder Engelberg. Oder in Lungern, wo der Laut «ue» zu «io» werde, also: «liog emal» (schau einmal). Lungern gelte in der Innerschweiz auch aufgrund anderer dialektaler Eigenheiten als Sonderfall, und man sei in der Gemeinde stolz darauf.
Generell lässt sich sagen, dass es in der Urschweiz auf vergleichsweise kleinem Raum, manchmal selbst von Dorf zu Dorf, noch deutlich mehr sprachliche Unterschiede gibt als in grossflächigeren Kantonen. Interessant ist, dass es sich dabei vielfach um Sonderentwicklungen handelt. Es trifft, wie Christen erklärt, also nicht zu, dass in den Tälern und auf den Bergen der Zentralschweiz ausschliesslich irgendwelche linguistischen Kuriositäten aus dem Althochdeutschen überlebt hätten. «Einige der Besonderheiten sind dort entstanden und haben sich einfach nicht ausgebreitet.»
Was Christen auch erwähnt: Sie sei sich bewusst, dass manche Bewohnerinnen und Bewohner der Urkantone empfindlich reagierten, wenn sich Auswärtige – zum Beispiel eine Luzernerin – über ihre Sprache ausliessen.
Und wie ist das Image der Urschweizer Dialekte? Im Unterschied zum Luzerner Dialekt gelten sie als prägnant, knorrig, urtümlich. Der Begriff «Chnebelgrinde», mit dem man im Rest des Landes in einer Mischung aus Verwunderung und Belustigung, aber durchaus auch mit Respekt von den Bewohnerinnen und Bewohnern der Innerschweiz spricht – dieser Begriff kann auch für die Haltung der übrigen Schweiz zu den jeweiligen Mundarten stehen.
In der Soziolinguistik, führt Helen Christen aus, spreche man in solchen Fällen von «verdecktem Prestige»: etwas, was vorerst eher negativ bewertet wird, letztlich aber eine durchaus positive Kehrseite hat und mit Stolz verbunden ist.
Dieser Text ist erstmals am 27. Februar 2024 erschienen. Zur Lancierung unseres neuen Dialekt-Tests publizieren wir ihn erneut.
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