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Lou-Anne Citherlet aus Regensdorf
Sie begann an der Kleiderstange, heute trainiert die Kunstturnerin in London

Eine gut gelaunte Lou-Anne Citherlet an den Schweizer Mannschaftsmeisterschaften 2023 in Wädenswil.
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«Achtung, da vorne, das ist gefährlich!», rufen die Eltern. Tibault bleibt sofort stehen. Doch seine kleine Schwester Lou-Anne reckt den Hals: «Wo denn?» Und weg ist sie.

Die Episode ist Jahre her, doch Tanja und Laurent Citherlet erzählen sie heute noch gerne, wenn es um ihre Tochter geht. «Sie hat immer die Gefahr gesucht, den Nervenkitzel, die Herausforderung», sagt die Mutter. Inzwischen ist Lou-Anne Citherlet 15 Jahre alt, selbstständig und vorsichtiger als früher, aber weiterhin voller Abenteuerlust.

Anfang September packt sie in ihrem Elternhaus in Watt die Koffer. 60 Kilogramm schleppt sie zum Flughafen Kloten, im Gepäck mitunter ein Kuscheltier, die kaputten Stufenbarrenleder als Glücksbringer, Briefe und Fotos sowie 10 Kilogramm Schokolade für die Gastfamilie und die neuen Trainingskolleginnen. Lou-Anne Citherlet fliegt weg. Ziel: London.

«Für mich ist klar, dass ich in diesem Jahr alles auf die Karte Kunstturnen setzen möchte.»

Lou-Anne Citherlet

Die Unterländerin gehört zu den besten Kunstturnerinnen des Landes, ist Teil des erweiterten Nationalkaders und Elite-Meisterin im Sprung. 2022 erreichte sie an den Juniorinnen-Europameisterschaften als stärkste Schweizer Einzelturnerin den 19. Platz. «Für mich ist klar, dass ich in diesem Jahr alles auf die Karte Kunstturnen setzen möchte», sagt Citherlet.

Darum stellt sich in diesem Sommer die Frage: «Wie weiter?»

Bis dahin haben die talentierte Tochter und ihre Familie einen anstrengenden Weg hinter sich. Trotz ihrer sportlichen Ambitionen wechselte Citherlet nicht ans Nationale Leistungszentrum in Magglingen, sondern trainierte weiterhin regional in Rüti und besuchte die Oberstufe zu Hause in Regensdorf. Die Schulleitung habe sensationell reagiert, sagt der Vater. Ohne die gebotene Flexibilität – Citherlets Anwesenheitspflicht beschränkte sich auf die Hauptfächer – hätten sich die 25 Trainingsstunden pro Woche niemals mit dem Unterricht vereinbaren lassen.

Magglingen aktuell keine Option

In diesem Sommer ist Lou-Anne Citherlet fertig mit der Oberstufe, die Situation in Magglingen für die Kunstturnerinnen aber weiterhin unbeständig. Inzwischen haben die neue Cheftrainerin und einer der neuen Nationaltrainer den Turnverband schon wieder verlassen. Wie es am Nationalen Leistungszentrum weitergeht, ist nach wie vor unklar. «Wir wissen leider nicht, ob Lou-Anne irgendwann nach Magglingen gehen kann und wird», sagt die Mutter.

Citherlet könnte an der United School of Sports in Zürich ihre Ausbildung zur Kauffrau mit Berufsmaturität beginnen und weiterhin in Rüti trainieren. Doch nach zehn Jahren in der Halle im Zürcher Oberland entscheidet sie sich für einen Tapetenwechsel. Die Wahl fällt auf die Turnnation England: Hier kann sie auf hohem Niveau trainieren, ihr Englisch verbessern – und nach intensiven drei Schuljahren durchatmen.

«Smartphones helfen, die Kinder ziehen zu lassen.»

Vater Laurent Citherlet

Mit dem Steckbrief ihrer Lehrstellenbewerbung sucht sie am South Essex Gymnastic Club (SEGC) ausserhalb Londons nach einer Gastfamilie und wird fündig. Die Williams wohnen 40 Autominuten östlich der Hauptstadt in Billericay, haben zwei Töchter im Primarschulalter, die ebenfalls turnen, und vorübergehend ein Zimmer frei. Als «Lotto-Sechser» bezeichnen die Eltern die Gastfamilie, mit der sie während Lou-Annes Aufenthalt in regelmässigem Austausch stehen. «Smartphones helfen, die Kinder ziehen zu lassen», stellt Laurent Citherlet fest. Auch die Tochter ist rundum zufrieden, zumindest fast: «Mir fehlt die Pasta», gesteht sie mit einem Lächeln.

In England macht es klick

In Essex, wo auch renommierte Turnerinnen trainieren, wird die Schweizerin ohne Sonderbehandlung integriert. Die Athletinnen turnen auf vergleichbarem Niveau, die Coaches bringen sie weiter. Nicht, weil sie grundsätzlich besser wären als ihre Trainerinnen in Zürich, betont Citherlet. «Doch mit einem neuen Ansatz kann es plötzlich klick machen.» So geschehen am Stufenbarren bei der Riesenfelge mit ganzer Drehung, die sie in England nochmals in ihre Einzelteile zerlegt. Jetzt sei die Drehung endlich im Handstand fertig. «Das habe ich lange einfach nicht geschafft.»

Geschafft: Jetzt gelingt Lou-Anne Citherlet die Riesenfelge mit ganzer Drehung am Stufenbarren perfekt.

In der Rückmeldung des englischen Trainers heisst es, Citherlet sei «very coachable». Der Vater fragt nicht nach, was das im Detail bedeutet. Wichtiger ist ihm, zu hören, dass die Tochter, die am Anfang anscheinend müde und ein wenig verunsichert wirkte, inzwischen aufgetaut sei und mit neuem Selbstvertrauen turne. Er sagt: «Sie ist happy.»

Im Kinderturnen entdeckt

Wenn er heute sieht, mit wie viel Begeisterung und Fokus sie ihre sportlichen Ziele verfolgt, kann Laurent Citherlet ehrlich sagen, dass er sein Ja von damals nicht bereut. Lou-Anne ist vier Jahre alt, als im Kinderturnen in Regensdorf eine Frau zu den Citherlets sagt: «Sie wissen schon, dass aussergewöhnlich gut ist, was ihre Tochter da turnt?» Die Eltern, beide Fussballer, haben keine Ahnung. Aber sie lassen sich von einer Schnupperlektion «Kunstturnen» überzeugen.

Zuercher Kunstturnerinnen-Tage in Buelach. Lou-Anne Citherlet Sibylle Meier (sim) 12.5.18

Im Kutu Neerach ist die Kleine in ihrem Element, kann ihren Bewegungsdrang voll ausleben. Zuvor hing sie zu Hause an jeder Kleiderstange, war Stammgast in der Zahnarztpraxis und selten ohne Beule unterwegs. Die Mutter sagt: «All das hat in dem Moment aufgehört, als sie mit Kunstturnen begann.» Lou-Anne Citherlet ist noch im Kindergarten, als der Wechsel ans Leistungszentrum im Zürcher Oberland zum Thema wird. Den Ausschlag geben am Ende die Grosseltern, die sich bereit erklären, die Enkelin mehrmals pro Woche von Watt nach Rüti ins Training zu fahren. Den finanziellen Aufwand der letzten Jahre könnten sie berechnen, an den Stunden aber würden sie scheitern.

Lou-Anne Citherlet sagt: «Das alles geht nur, weil die ganze Familie mitzieht.» Eltern und Tochter schauen sich an. «Du kannst uns ja dann alles einmal zurückzahlen», meint schliesslich der Vater mit einem Augenzwinkern. «Gern», sagt sie. «Sobald ich Weltmeisterin bin.» Es ist ein Scherz. Nicht unbedingt der Teil mit dem Titelgewinn, sondern, dass das Geld dann reichen würde. Denn reich wird sie mit Kunstturnen kaum jemals werden.

 «Das alles geht nur, weil die ganze Familie mitzieht»: Lou-Anne mit ihren Eltern Tanja und Laurent Citherlet auf Besuch in Essex.

Was Citherlet antreibt, ist das kurze Gefühl der Schwerelosigkeit am Sprung, die Kombination von Ausdruck und Athletik am Boden und die mentale Herausforderung am Balken, der ihr im Wettkampf stets ein bisschen schmaler erscheint als sonst. National und international punktet die Allrounderin am liebsten im Team. Im Spitzenturnen kommt das für sie zu kurz. «Ich mag es, mit anderen zusammen anzutreten, gemeinsam für etwas zu kämpfen.» Auch darum träumt sie von einem Stipendium in den USA, wo sie an den College-Meisterschaften Teamgeist intensiver leben könnte. So wie Bruder Tibault, der aktuell für die U-21 des FC Winterthur spielt.

«Es wird jetzt hingeschaut, nachgefragt, auch mal Druck rausgenommen.»

Lou-Anne Citherlet

Lou-Anne Citherlet erzählt, dass die Eltern – beide engagieren sich in der Junioren-Ausbildung des FC Regensdorf – die Karrieren ihrer Kinder mit Umsicht begleiten. Die Familie bespricht regelmässig, ob der eingeschlagene Weg für die Geschwister noch passt. Ans Aufhören hat sie selbst über die Jahre nie ernsthaft gedacht, auch nicht in Zeiten, mit denen sie nicht nur gute Erinnerungen verbindet. Seit die Missstände im Kunstturnen 2020 in den «Magglingen-Protokollen» öffentlich gemacht wurden, habe sich das Klima positiv verändert, bemerkt Citherlet. «Es wird jetzt hingeschaut, nachgefragt, auch mal Druck rausgenommen.»

Sie turnt am liebsten in der Gruppe. Lou-Anne Citherlet zusammen mit ihren Zürcher Teamkolleginnen.

Vor wenigen Tagen ist Lou-Anne Citherlet in die Schweiz zurückgekommen, um an den nationalen Mannschaftsmeisterschaften zu turnen. Mit Team Zürich 1 gewinnt sie knapp hinter Titelverteidiger Aargau Silber. Eigentlich möchte sie für dieses Zwischenjahr zurück nach England. Doch da ihre Gastfamilie das Zimmer braucht, ist Citherlet erneut auf der Suche nach einer Unterkunft.

Kurzfristig ist also vieles offen, das langfristige Ziel jedoch gesetzt: die Olympischen Spiele in Los Angeles 2028. Die 15-Jährige ist offensichtlich begeistert von der Perspektive. «Das wäre dann sogar in den USA! Kommt ihr mit?» Die Eltern seufzen. «Dann willst du sicher gleich dort bleiben», bemerkt die Mutter. Alle drei lachen. Tanja und Laurent Citherlet haben früh gelernt, dass sich ihre Tochter zwar begleiten, aber niemals aufhalten lässt.