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Writer-in-Residence in Zürich
Nach dem Tod aufgegessen werden, was soll daran so schlecht sein?

Die Bestsellerautorin Sayaka Murata will Dinge finden, die sie «als Menschen zerbrechen und zerstören werden». Das sei der Grund, warum sie schreibe.
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Eine Welt, in der Menschen nicht beerdigt, sondern die Leichen in «Lebenszeremonien» gekocht und aufgegessen werden. Danach haben die Trauernden auf offener Strasse Sex. In einer anderen Geschichte verliebt sich eine Jugendliche in einen Vorhang. So geht es zu und her in den Erzählungen der japanischen Bestsellerautorin Sayaka Murata.

Muratas Geschichten sind seltsam, grotesk und immer wieder auch sehr lustig. Die 44-Jährige ist derzeit Writer-in-Residence des Literaturhauses Zürich. In Japan wird sie als «feministische Ikone» gefeiert und steht für eine neue Generation von japanischen Schriftstellerinnen, die wider gesellschaftliche Strukturen schreiben.

«Ich stelle mir meine Geschichte als Aquarium vor», sagt Murata in Interviews über ihren Schreibprozess. Ein Aquarium, in das sie ihre Charaktere platziere und dann Dinge verändere, damit sich die Geschichte entfalte. «Wenn ich meine Aquarien einrichte, tauche ich in mein tiefstes Unterbewusstsein ein.» Murata will Dinge finden, die sie «als Menschen zerbrechen und zerstören werden». Das sei der Grund, warum sie schreibe.

Sie habe schon als Kind in ausgedachten Welten gelebt, erzählt Murata in einem Interview. Sie sei ein einsames Kind mit dreissig imaginären Freunden gewesen. Mit zehn Jahren fing sie an, zu schreiben. «Ich dachte, wenn ich schreibe, steigen die Geschichten in den Himmel», sagt Murata. «Und die Götter würden sie auswählen und zu Büchern machen.»

Muratas Figuren widersetzen sich konventionellem Denken

2016 veröffentlichte die Autorin den Roman «Konbini ningen» und erhielt dafür den Akutagawa-Preis, den wichtigsten Literaturpreis Japans. Es war bereits ihr zehntes Werk, wurde aber als erstes in mehrere Sprachen übersetzt. Auf Deutsch erschien «Die Ladenhüterin» 2019. 2021 folgte «Das Seidenraupenzimmer» und 2022 die Kurzgeschichtensammlung «Zeremonie des Lebens».

In «Die Ladenhüterin» arbeitet eine Frau 18 Jahre lang in einem Konbini, einem japanischen Convenience-Store, und möchte weder Sex noch eine Ehe. Ihre Erfüllung findet sie in der Arbeit als Aushilfskraft. Wie ihre Erzählerin hat Murata selbst 18 Jahre lang in einem Konbini gearbeitet. Es habe ihr Struktur zum Schreiben gegeben: Sie stand um 2 Uhr morgens auf, schrieb bis 6 Uhr, arbeitete von 8 Uhr bis 13 Uhr im Konbini und ging dann in ein Café, um bis zum Abend weiterzuschreiben.

Für Murata ist die Erzählerin in «Die Ladenhüterin» eine Heldin. Sie ist widerstandsfähig, wie viele von Muratas Figuren. Eine Eigenschaft, welche die Autorin mit ihren Protagonisten teile. Figuren, das sind bei Murata Aussenseiterinnen der Gesellschaft. Sie widersetzen sich konventionellem Denken und erfüllen für sie vorgegebene Rollen nicht. Oft sind es Frauen, die keinen Sex wollen und in alternativen Familienstrukturen leben. Murata stellt sie einer japanischen Gesellschaft gegenüber, in der erst ein nützliches Mitglied ist, wer einen anständigen Beruf ausübt oder eine Familie gründet.

Normalität als Art des Wahnsinns

Murata interessiert sich für Menschen, die sich ethisch anders verhalten. Und macht beispielsweise Kannibalismus zum Thema. Sie lässt ihre Figuren Sätze sagen wie: «Gut essen, das Leben geniessen und, wenn man stirbt, mit Genuss verzehrt werden und neue Lebenskraft spenden: Was soll daran schlecht sein?» Ja, was soll daran so schlecht sein?, fragt man sich als Lesende.

Sayaka Muratas Geschichten hinterfragen ethische Grundsätze, die dem Zusammenleben der Menschen zugrunde liegen. Die Autorin zeigt, dass auch diese in einer sich immer verändernden Welt nicht konstant sein können. Sie entlarvt so gesellschaftliche Erwartungen in ihrer Absurdität. Und schreibt: «Normalität ist ja auch eine Art von Wahnsinn. Und eben die einzige Art von Wahnsinn, die auf dieser Welt erlaubt ist.»

Das Literaturhaus Zürich, der Verein «Writers in Residence» und die Stiftung PWG bieten mit Unterstützung von Stadt und Kanton Zürich seit Dezember 2010 eine Writers-in-Residence-Wohnung an, in der sich ausgewählte Schriftstellerinnen und Schriftsteller jeweils ein halbes Jahr aufs Schreiben konzentrieren können.