«James» von Percival EverettDer Sklave aus «Huckleberry Finn» erzählt das Meisterwerk neu
Das Schlüsselwerk der US-Literatur ist in Verruf geraten. Ein neuer Roman macht aus Jim James – eine literarische Auseinandersetzung mit dem Rassismus, wie es sie noch nicht gab.
Die Abenteuer des Huckleberry Finn kennt jeder, auch Nichtleser sind in einer der vielen Verfilmungen dem Jungen auf seiner abenteuerlichen Fahrt den Mississippi hinunter gefolgt. Mark Twains erfolgreichster Roman gilt als Gründungs- und Schlüsselwerk der US-amerikanischen Literatur. Und doch ist es in Verruf geraten – wegen eines Wortes und einer Gestalt.
Ja, es handelt sich um «Nigger Jim»: den so 219-mal im Text titulierten Begleiter Hucks, eines entlaufenen Sklaven. Mark Twain bedient sich der in seiner Zeit üblichen Bezeichnung. Und nicht nur das. Er lässt Jim in einem primitiven Afroenglisch reden, und überhaupt ist die Figur zwar gutherzig, aber doch ziemlich beschränkt; es ist Huck, der in kniffligen Situationen die rettende Ideen und Taten hat und ergreift.
Das N-Wort ist heute ein Unwort, auch im historischen Kontext, auch in literarischen Meisterwerken. Man kann den Begriff ersetzen; man kann den Roman von Leselisten streichen, wie es in den USA vielfach geschieht. Die Gestalt, wie sie Mark Twain erfunden hat, kann man nicht verändern.
Jim als vernünftigen, belesenen und urteilsstarken Menschen
Ausser man ist selbst ein Autor mit Fantasie, Selbstbewusstsein und Sinn für Originalität – wie Percival Everett, der das in seinen über 20 Büchern bisher vielfach bewiesen hat. Sein neuer Roman heisst «James» und stellt uns den Sklaven Jim als vernünftigen, belesenen, urteilsstarken Menschen vor. Sklave ist er aber immer noch. Weshalb er alle seine Qualitäten vor der weissen Herrenwelt verstecken muss. Und den Sklaven, der er ist, spielen muss: sprachlich und im Verhalten.
«Es lohnt sich immer, Weissen zu geben, was sie wollen» – etwa begriffsstutzig, leicht- und abergläubisch zu sein. Und so gibt sich Jim auch gegenüber Huck und Tom Sawyer, als die sich an ihm vorbei in Miss Watsons Küche schleichen. Diese Eröffnungsszene kennen wir von Mark Twain aus Hucks Perspektive, hier bei Everett sind es die weissen Jungs, die plump, ungelenk und albern wirken.
Everett erzählt uns manches, was wir aus «Huckleberrys Abenteuer» kennen, noch einmal, nur eben aus Jims – pardon: aus James’ Perspektive. Denn so nennt er sich selbst. Wie bei Mark Twain flieht er, als er erfährt, dass er verkauft werden soll; versteckt sich erst auf einer Insel; tut sich mit Huck zusammen, der vor seinem gewalttätigen Vater davonläuft; fährt mit ihm den grossen Fluss hinunter, auf einem Boot, auf einem Floss. Sie treffen auf zwei Betrüger, den «Herzog» und den «König», sie verlieren einander, finden sich wieder, und sie reden: über die Welt, wie sie beschaffen ist.
«Wie kann das sein, dass ein Mensch einem anderen gehört?», fragt Huck, und James muss aufpassen, dass er sich bei seinen Erklärungen nicht «verspricht»: Gegenüber Weissen hält er sich strikt an die «Sklavensprache», das verballhornte Primitivenglisch.
Das stellt für Twain-Übersetzer ein Problem dar; für Everett-Übersetzer natürlich auch. Nikolaus Stingl benennt es und löst es geschickt – durch ein künstliches Deutsch, das keinem Dialekt ähnelt, aber sich durch allerlei «Verstösse» von der Norm nach «unten» absetzt.
Woher hat James Bildung und Vernunft? Aus heimlichen Lesestunden in der Bibliothek seines Herrn, Richter Thatcher, denn der war gern lange auf der Entenjagd. Da hat sich James mit den Schriften der Aufklärer vollgesogen, und wenn er träumt, diskutiert er mit Voltaire oder John Locke, denen er Widersprüche in ihrem Menschenbild nachweist: Wieso sind für Voltaire alle Menschen gleich, aber die Schwarzen durch die «Umstände» doch minderwertig?
Everett zeigt die Gewalt, die das Leben der Sklaven prägt
Ein lesefähiger, korrekt sprechender, ein denkender Sklave: Das ist für die Weissen eine Provokation, ja etwas Unvorstellbares. Denn das wäre ja ein Mensch wie sie – was sich mit der Sklaverei nicht vertrüge. Die beruht darauf, dass Sklaven keine «richtigen» Menschen sind, eher etwas wie Tiere, die man auch so behandeln kann.
Anders als Mark Twains Roman, der sich wie eine Folge munterer Abenteuer liest und deshalb auch so gut als Jugendbuch durchgeht, zeigt Everett die brutale Gewalt, Willkür und Rechtlosigkeit, die das Leben der Sklaven prägt. James wird nicht nur vom Herzog geschlagen, sondern auch von einem Sägereibesitzer, an den er vorübergehend verkauft wurde, bis zur Bewusstlosigkeit ausgepeitscht. Würde er als «Entlaufener» erkannt, wäre ihm ein grausamer Tod gewiss.
Wie in seinen früheren Romanen spielt Everett mit der Perspektive. Aus der Sicht der Sklaven sind die Weissen alle gleich, nämlich alle Sklavenhalter, so mild und grosszügig sie sich selbst sehen mögen. Sie bleiben Herren über Leben und Tod, über die Peitsche, über die Körper ihrer Sklavinnen. Im Mittelteil des Romans wird James von Daniel Decatur Emmett gekauft.
Das ist eine historische Figur, Erfinder der Minstrel-Show: Seine «Virginia Minstrels» malten sich das Gesicht mit Schuhwichse schwarz an und sangen und tanzten auf lächerliche, vermeintliche «Sklaven-Art»: zum Gaudi der Weissen. James muss einen fehlenden Tenor ersetzen – und weil er nicht schwarz genug ist, malt man auch ihn an. Als einziger echter unter falschen Schwarzen vor weissem Publikum, das ihn bei Erkanntwerden sicher in Stücke gerissen hätte, steht er Todesängste aus.
Sein Käufer Emmett, der ihn für 200 Dollar «engagiert» hat und Sklaverei ausdrücklich ablehnt, entpuppt sich natürlich als Heuchler, denn James müsste, um frei zu sein, das Kaufgeld abarbeiten, pro Abend einen Dollar. Schuldsklaverei statt Besitzsklaverei, begreift James und macht sich bei nächster Gelegenheit davon.
So uniform die Weissen, so differenziert zeichnet Everett die Welt der Schwarzen. Viele haben die Sklaverei verinnerlicht, identifizieren sich mit dem System und ihren Herren; andere sind solidarisch, helfen einander, opfern sich auf. Und dann wird es kompliziert. Norman, einer der «Virginia Minstrels», ist ein Ex-Sklave, der «als Weisser durchgeht», so hellhäutig ist er offenbar. Und sogar Huckleberry hat «Sklavenblut» in seinen Adern. Als er das erfährt, gerät seine Identität ins Wanken. «Dann bin ich also ein Nigger?» Da kommt ihm James zu Hilfe: «Du bist, was du sein willst.»
Ein bisschen provozieren möchte Everett auch
Schwarz und Weiss sind nichts Essenzielles, sondern Zuschreibungen – jedenfalls in dem Grenzbereich, wo die Farbe nicht mehr ganz eindeutig ist. In diesen Passagen erweist sich James als Existenzialist «avant la lettre» – und Percival Everett könnte sogar der Identitätsfraktion in der aktuellen Debatte gefallen, für die man derjenige ist, als der man sich empfindet (oder erklärt). Nur dass die Umstände, das Sklavensystem, dem eben entgegenstanden.
Ein denkender Sklave? Das ist eine solche Provokation, dass James seine Maske nur ganz selten lüftet. Erst gegen Ende, als der lange auf kleiner Flamme köchelnde Zorn hoch auflodert, lässt er sie fallen. Ein bisschen provozieren möchte Everett uns Leser aber auch, nämlich uns mangelnder Vorstellungskraft überführen. Etwa wenn er James mit einem Sklavenfreund sinnieren lässt, ob etwas jetzt «proleptische» oder «dramatische» Ironie sei, oder er sich vorstellt, was Kierkegaard sich in einer bestimmten Situation wohl gewünscht hätte. Da dehnt er die Bänder der Plausibilität bis zum Zerreissen.
Aber: So dumm wie Mark Twain «Nigger Jim», den landläufigen Stereotypen folgend, erschaffen konnte – so belesen und klug darf ich ihn neu erfinden, wird sich Percival Everett gesagt haben. Und seinem Helden ein actionreiches, fulminantes und glückliches Ende bescheren: Das darf er dann natürlich auch.
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