Stichwahl in der TürkeiLieber auswandern als unter Erdogan leben
Viele junge Türken sehen unter der islamisch-konservativen Regierung keine Zukunft mehr für sich. Die Stichwahl am Sonntag könnte über ihre Leben entscheiden.
«Wenn Erdogan gewinnt, verlasse ich die Türkei», sagt Ezgi. Vor der Stichwahl am Sonntag hat die 25-Jährige «alle Hoffnung verloren», dass der Oppositionskandidat Kemal Kilicdaroglu Präsident Recep Tayyip Erdogan nach 20 Jahren an der Macht doch noch ablösen könnte. So wie diese Istanbulerin sehen viele junge Türken unter der islamisch-konservativen Führung keine Perspektive mehr für sich in ihrer Heimat.
«Ich liebe mein Land zutiefst, aber ich möchte nicht wie die iranischen Frauen enden», sagt Ezgi, die im Marketing arbeitet und ihren Familiennamen lieber nicht nennen möchte. Gemeinsam mit ihrer älteren Schwester plant sie bei einer Wiederwahl Erdogans in die Niederlande zu ziehen.
«Ich möchte nicht wie die iranischen Frauen enden.»
Hasibe Kayaroglu hatte gehofft, dass die Wahl einen Wandel in ihrer Heimat einleiten würde. Vor der ersten Runde Mitte Mai galt der Sozialdemokrat Kilicdaroglu als Favorit. Tatsächlich stimmten aber 49,5 Prozent der Wählerinnen und Wähler für Erdogan, sein Herausforderer bekam 44,9 Prozent der Stimmen – eine Enttäuschung für viele jüngere Türken.
«Jeden Abend reden mein Mitbewohner und ich nur darüber, wie wir hier wegkommen können», sagt Kayaroglu, Ingenieurstudentin aus Ankara. «Die jungen Leute haben keine Hoffnung mehr.»
Andere jüngere Türken zeigten sich im Gespräch mit der Nachrichtenagentur AFP kurz vor der Stichwahl am Sonntag ebenso pessimistisch. Sie machen Erdogan für die desolate wirtschaftliche Lage im Land verantwortlich und werfen ihm vor, ihre Freiheiten zu beschränken.
«Wir leben in einem schönen Land, aber es wird nicht richtig regiert und es wird immer schlimmer. Deshalb gehen viele junge Leute ins Ausland», sagt Emre Yörük. Sein älterer Bruder drängt ihn, auszuwandern – wie es jedes Jahr bereits zehntausende junge Türken tun.
«Die jungen Leute haben keine Hoffnung mehr.»
In einer Anfang 2022 veröffentlichten Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung gaben 72,9 Prozent der Türken zwischen 18 und 25 Jahren an, dass sie ins Ausland ziehen würden, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten. «Der Anteil ist selbst unter jungen Menschen hoch, die die AKP oder die MHP unterstützen», sagt Demet Lüküslü, Jugendsoziologin an der Yeditepe Universität in Istanbul. Die AKP ist die Partei Erdogans, die ultranationalistische MHP ihr Koalitionspartner. «Die Jugend beklagt sich über die wirtschaftliche Situation, aber auch über ein gesellschaftliches Klima, in dem sie sich unwohl fühlt», sagt Lüküslü.
Erogan spricht von «verachtenswerten Launen» junger Leute – Kilicdaroglu bittet um ihre Rückkehr
Die Abwanderung junger, oft gut ausgebildeter Türken war im Wahlkampf kein Thema. In den letzten Tagen vor der Entscheidung dreht sich die Kampagne vor allem um die Frage, ob die 3,7 Millionen Flüchtlinge in der Türkei in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt werden sollen.
Erdogan sprach im Herbst abfällig von den «verachtenswerten Launen» mancher jungen Leute. «Wir blicken mit Mitleid auf diejenigen, die an die Türen anderer Länder klopfen, nur um ein schöneres Auto oder ein besseres Telefon zu bekommen», sagte er.
«Kommt zurück, junge Leute. Dieses Land braucht euch», twitterte Kilicdaroglu Anfang Mai und reagierte damit auf ein Video von Absolventen der renommierten Istanbuler Bogazici-Universität. Sie hatten erklärt zurückzukehren, sollte Kilicdaroglu sie darum bitten.
Ömer Altan ist einer der Absolventen. Er hofft immer noch auf einen Sieg des Oppositionskandidaten. «Er wird sich mit aller Kraft durchsetzen», sagt Altan, der in Dänemark einen Master in Elektrotechnik macht. (Mehr zur Lage vor der Stichwahl: Und nun, Herr Kilicdaroglu?)
«Immer mehr junge und auch weniger junge Menschen denken darüber nach, ins Ausland zu gehen», sagt er und beklagt die «Ungleichheit und Korruption» in der Türkei. Der 25-Jährige will trotzdem und unabhängig vom Ausgang der Stichwahl in seine Heimat zurückzukehren: «Wenn Erdogan gewinnt, ist es noch wichtiger, Gutes zu tun.»
AFP/aru
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