Türkinnen und Türken in der SchweizFür oder gegen Erdogan? Das ist hier die Frage
60’000 Türkinnen und Türken haben in der Schweiz gewählt. Wir wollten von ihnen wissen, wem sie ihre Stimme geben? Und warum? Nachgefragt vor dem Wahllokal in Zürich-Oerlikon.
Vor dem Wahllokal in Zürich-Oerlikon herrscht reges Treiben. Schweizer Türkinnen und Türken sind gekommen, um ihren Stimmzettel für die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vom 14. Mai in der Türkei in die Urne zu werfen. «Die Emotionen gehen hoch», sagt die 26-jährige Ceren Bingöl, die soeben gewählt hat. Das Thema polarisiert in den Familien, unter Freundinnen und Arbeitskollegen.
Je näher der Wahltermin rückt, desto vollmundiger werden die Versprechen. In diesen Tagen kündigt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan eine superschnelle Zugverbindung zwischen Ankara und Istanbul an, versichert den Menschen im Land grosszügige Lohn- und Rentenerhöhungen sowie millionenschwere Hilfsprogramme für die Erdbebengebiete. Er gibt alles in der Schlussphase des Wahlkampfs.
Ob es reicht, ist unklar. Sechs Parteien haben sich zu einem Oppositionsblock vereint und den Gegenkandidaten Kemal Kilicdaroglu gestellt. Ihm werden gute Chancen eingeräumt. So gut, dass sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Erdogan und Kilicdaroglu abzeichnet. Erreicht keiner der Kandidaten in der ersten Runde die absolute Mehrheit, kommt es am 28. Mai zu einer Stichwahl.
Grosse Wut nach dem Erdbeben
Die Schweizerin Ceren Bingöl wohnt in Opfikon und hat Kilicdaroglu gewählt. «Nach 20 Jahren Erdogan brauchen wir eine Veränderung», sagt sie. Unter anderem habe ihr das Erdbeben vor Augen geführt, dass die amtierende Regierung unter Erdogan nicht fit sei für die Herausforderungen in der Türkei. Jegliche Hilfe sei zu spät gekommen. Über 50’000 Menschen sind bei diesem Erdbeben gestorben. «Auch die Inflationsrate ist ein riesiges Problem, das nicht mehr von der Regierung eingedämmt werden kann», sagt Bingöl. Die türkische Bevölkerung leide massiv darunter. «Wir wollen nun ein funktionierendes parlamentarisches System.»
«Viele Türkinnen und Türken in der Schweiz wählen Erdogan, müssen aber nicht mit den Folgen seiner Hardliner-Politik in der Heimat leben.»
Der 43-jährige Ahmet Alabalik pflichtet ihr bei. Auch er hat seine Stimme dem Oppositionskandidaten Kilicdaroglu von der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP gegeben. «Das Ein-Mann-System von Erdogan ist nicht mehr zeitgemäss», sagt er. Ihn störe, dass das ganze Land und die Kultur immer häufiger auf Erdogan reduziert würden. Er kritisiert die Einschränkungen der Meinungsfreiheit, die Inhaftierung von regierungskritischen Akademikerinnen und Akademikern und die Repression gegen Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung. So hat Erdogan kürzlich angekündigt, «aktiv gegen perverse Tendenzen vorzugehen, die die türkische Familienstruktur bedrohen». Er meinte damit Homo-, Transsexuelle, nonbinäre und queere Personen.
Ahmet Alabalik sagt: «Viele Türkinnen und Türken in der Schweiz wählen Erdogan, müssen aber nicht mit den Folgen seiner Hardliner-Politik in der Heimat leben – das ist nicht fair gegenüber den Menschen in der Türkei», so der Unternehmer aus Pfäffikon. In den letzten zwanzig Jahren habe das Land unter Erdogan in vielen Bereichen Rückschritte gemacht, insbesondere bei den Frauenrechten.
Kritik aus den eigenen Reihen
Tatsächlich hat die Türkei am 20. März 2021 ihren Austritt aus der Istanbul-Konvention erklärt. Dieses Übereinkommen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Mädchen und Frauen hat der Europarat unter der Ägide der Türkei im Jahr 2011 erarbeitet, damals unter Ministerpräsident Erdogan. Diese erste internationale völkerrechtsverbindliche Konvention zum Schutz der Frauen enthält auch das Verbot von Vergewaltigung in der Ehe und weiblicher Genitalverstümmelung. Die Istanbul-Konvention wurde einst vom türkischen Parlament verabschiedet, der Austritt erfolgte jedoch per Dekret – von Staatspräsident Erdogan höchstpersönlich. Damit wollte er vermutlich bei seiner islamistischen Kernanhängerschaft punkten. Doch der Protest kam nicht nur von säkular ausgerichteten Frauengruppen, sondern auch von Frauen in seiner eigenen Regierungspartei AKP.
Die Frauen dürften bei diesen Wahlen also eine Schlüsselrolle spielen. So sieht es auch Ayhan Sahin. Er ist aus Basel angereist, um seine Stimme abzugeben. Er wählt Kilicdaroglu. «Die konservative und zunehmend frauenfeindliche Politik der Regierungspartei schreckt wohl viele Frauen ab, auf deren Stimmen Erdogan eigentlich angewiesen ist.» Der Theatermacher und Vater von zwei Töchtern hat mit Politik nicht viel am Hut, sagt aber: «Je länger ich mich damit befasse, desto überzeugter bin ich, dass die Türkei dringend einen Machtwechsel braucht.»
Das Land befindet sich in einer schweren Wirtschaftskrise, die Preise für Lebensmittel, Wasser und Strom sind in den vergangenen Jahren massiv gestiegen. Das Erdbeben hat die Krise nochmals verschärft. Gleichzeitig stellt der Staatspräsident im türkischen Fernsehen moderne Übergangswohnungen für die Erdbebenopfer zur Schau. «Dass Erdogan das Erdbeben derart politisch ausschlachtet, zeigt gut, dass es ihm um den Machterhalt geht und nicht um die Menschen», sagt Sahin: «Mit einer neuen Regierung wird nicht auf einmal alles gut, aber es könnte der Anfang einer Veränderung sein.»
Anders sieht es die 31-jährige Studentin Neslihan Gün. Sie ist aus dem Thurgau nach Zürich gereist und wählt Erdogan. «Ich war lange unsicher, dann habe ich mir die Kandidaten genau angeschaut und ihre Profile verglichen.» Am Schluss sei sie zur Überzeugung gelangt, dass Erdogan am besten ihre Werte und Anliegen vertrete. «Er hat die Kopftuchfreiheit ausgedehnt – dank ihm gibt es mehr religiöse Diversität und Toleranz», sagt die angehende Ethnologin und Erziehungswissenschaftlerin.
Was sagt sie dazu, dass die Türkei aus der Istanbul-Konvention ausgetreten ist? «Ich machte mir natürlich auch Gedanken. Aber es ist nicht so, dass nun jegliche geschlechterspezifische Rechte in der Türkei aufgehoben sind.» Auch in der Türkei bestehe noch viel Aufholbedarf, so wie überall auf der Welt und auch in anderen europäischen Ländern.
Rekordhohe Wahlbeteiligung
In der Schweiz sind gemäss dem Konsulat in Bern 106’000 türkische Wählerinnen und Wähler registriert. 60’091 haben ihre Stimme abgegeben, was einer Wahlbeteiligung von 56,7 Prozent entspricht. «So hoch war die Wahlbeteiligung in der Schweiz noch nie», teilt die türkische Botschaft in Bern mit.
Die türkische Diaspora stellt die sechstgrösste Migrantengruppe der Schweiz dar. Türkische Staatsbürger kamen ab den Achtzigerjahren vermehrt als politische Flüchtlinge in die Schweiz. Der Anteil kurdischer, alevitischer und auch armenischer Migrantinnen und Migranten stieg an. Türkische Arbeitsmigranten hingegen gingen eher nach Deutschland, das in den 1960er-Jahren Hunderttausenden die Tür öffnete. Diese Unterschiede in der Diaspora zeigen sich bis heute beim Urnengang. Bei den Präsidentschaftswahlen 2018 fielen 64,8 Prozent des deutschtürkischen Votums auf Erdogan, während er in der Türkei mit 52,6 Prozent der Stimmen deutlich weniger Zustimmung erhielt. In der Schweiz stimmten 37,2 Prozent für ihn.
Doch wie wird es dieses Mal ausgehen? Vor dem Wahllokal in Zürich Oerlikon lässt sich kein deutliches Resultat erahnen. Viele kombinieren den Gang zur Urne mit einem Familienausflug. Kinder spielen auf dem Platz vor dem Wahllokal und Jugendliche trinken nebenan einen Kaffee. Sie sprechen über Fussball oder Ferienpläne. Die Stimmung ist locker. Manchmal lässt sich die politische Einstellung in Gesten oder Äusserlichkeiten der Wählerinnen und Wähler ablesen. Modisch gekleidete Kopftuchträgerinnen oder Herren mit einem glitzernden Rosenkranz in der Hand geben ihre Stimme tendenziell an Erdogan. Eine Gruppe junger Männer mit auffälligen Markenkleidern wählt ebenfalls Erdogan, wie sie sagen. Wegen seines «starken Führungsstils» und weil er «viel erreicht hat». Mehr wollen sie dazu nicht sagen. Der amtierende Präsident, der aus ärmlichen Verhältnissen stammt, steht für viele noch immer sinnbildlich für den sozialen Aufstieg.
Doch der Wind könnte drehen. Der Langzeitpräsident muss um seine Wiederwahl bangen. Die meisten Umfragen sehen den Oppositionskandidaten Kilicdaroglu knapp vorne – auch wegen der Stimmen aus der Schweiz.
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