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Lesende fragen Peter Schneider
Macht uns Google freier oder vergesslicher?

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BotTalk

Das Internet bietet uns eine Fülle an Informationen, wir nutzen Checklisten und To-do-Listen. Handeln wir damit wider das Vergessen oder wider die Freiheit? G.I.

Lieber Herr I.

Im Dialog «Phaidros» lässt Platon seinen Lehrer Sokrates seine fundamentale Kritik der Schriftlichkeit vortragen. Er widerspricht dort der verbreiteten Auffassung, Schrift sei das ideale Medium, um Wissen aufzubewahren, zu überliefern und es damit vor dem Vergessen zu bewahren.

Ganz im Gegenteil, so Sokrates, der seine Worte wiederum dem ägyptischen König Thamus in den Mund legt, der seine Einwände gegenüber dem Gott Theut äussert, welcher ihm die Erfindung der Buchstaben schmackhaft machen will: Diese neumodische Erfindung der Schrift, so Thamus, werde «in den Seelen derer, die sie erlernen, Vergesslichkeit bewirken, weil sie ihr Gedächtnis nicht mehr üben; denn im Vertrauen auf Geschriebenes lassen sie sich von aussen erinnern durch fremde Zeichen, nicht von innen heraus durch sich selbst. ... Was aber das Wissen angeht, so verschaffst du den Schülern nur den Schein davon ... Denn da sie durch deine Erfindung vieles hören ohne mündliche Unterweisung, werden sie sich einbilden, vieles zu verstehen, wo sie doch gewöhnlich nichts verstehen, und der Umgang mit ihnen ist schwierig, da sie überzeugt sind, klug zu sein, es aber nicht sind.»

Das klingt sehr nach der zeitgenössischen Kritik des Internets. Wir verlassen uns auf das, was im World Wide Web geschrieben steht, und auf das, was wir von unserem Leben in der Cloud gespeichert haben, und werden hilflos, wenn wir das WLAN-Passwort vergessen haben.

Das Lob der Mündlichkeit ist natürlich anachronistisch und auch falsch. 

Die Freiheit von der Angst, uns nicht zu erinnern, versetzt uns in eine neue Abhängigkeit. Darüber hinaus wissen wir nicht, ob wir dem richtigen «Wissen» vertrauen oder zum Beispiel auf Fake News hereinfallen.

Sogar die Kritik an Chat-GPT haben Sokrates/Platon drauf: Bei Texten könnte man «meinen, sie sprechen, als hätten sie Verstand; fragst du aber nach etwas von dem, was sie sagen, ... so erzählt der Text immer nur ein und dasselbe. Und ist er erst einmal geschrieben, treibt jeder Text sich überall herum, und zwar in gleicher Weise bei denen, die ihn verstehen, wie bei denen, für die er nicht passt …»

Das Lob der Mündlichkeit, die uns vor der Abhängigkeit unzuverlässiger und «dummer» Speichermedien (Buchstaben!) bewahrt und die Übertragung auf das papageienhafte Plappern der Chatbots ist natürlich anachronistisch und auch falsch – als gäbe es in einer mündlichen Welt keine vertrauensunwürdigen Autoritäten und fatale Abhängigkeit. Aber die antike Kritik der «Gutenberg-Galaxis» (Marshall McLuhan) und des Metaverse kann dabei helfen, das Verhältnis von Gedächtnis und Freiheit gleichsam von «aussen her» neu zu bedenken.

Der Psychoanalytiker Peter Schneider beantwortet Fragen zur Philosophie des Alltagslebens. Senden Sie uns Ihre Fragen an gesellschaft@tamedia.ch.