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Lesende fragen Peter Schneider
Odi et amo: Was ist, wenn man liebt und hasst?

Ein etwa 14 Tage altes Baby trinkt an der Brust seiner Mutter.
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BotTalk

Was soll man tun, wenn man gegen jemanden oder gegen etwas mit den Jahren eine Hassliebe entwickelt hat? E.F.

Lieber Herr F.

Dass es ein Phänomen wie Hassliebe überhaupt gibt, zeigt, dass beide, der Hass wie die Liebe, eine gemeinsame Eigenschaft haben: Sie binden uns an andere Menschen. Man sollte ja annehmen, dass Hass dazu führt, jemanden zu meiden und zu vergessen. Das Gegenteil ist der Fall. Man beschäftigt sich geradezu obsessiv mit dem gehassten Objekt. Das ist bei der Liebe nicht anders, aber dort überrascht es einen nicht: Man sucht Nähe und kann sich ein Vergessen gar nicht vorstellen. (Wahre Liebe besteht darin, loslassen zu können? Ratgeber-Bullshit.)

Hass und Liebe sind gleichermassen von Abhängigkeit durchzogen. Das eine Mal ist diese Abhängigkeit unverständlich, beim anderen Mal scheint sie unvermeidlich. Diese Abhängigkeit ist es allerdings, die dafür sorgt, dass Liebe in Hass umschlagen kann. In der Umkehrung sehen wir diesen Umschlag in der Realität selten, aber häufig in romantischen Komödien. Die Abhängigkeit hält den Hass aufrecht wie zuvor die Liebe.

Diese Verwandtschaft zwischen Liebe und Hass – tadaa, surprise, surprise – ist im Verhältnis zu unseren primären Bezugspersonen begründet. Am schärfsten hat das die Psychoanalytikerin Melanie Klein in den Fokus gerückt. In der etwas unfreiwillig komischen und seltsam anmutenden Metaphorik beschreibt sie den Säugling als hin- und hergerissen zwischen der «guten» und der «bösen Brust». Die beiden Brüste stehen für die ständig zur Verfügung stehenden, gewährenden und befriedigenden Aspekte der Pflegepersonen bzw. für deren Gegenteil: Versagung. Das kleine Kind ist also gespalten von Liebe und Hass.

Man kann versuchen, herauszufinden, worin die fortwährende Abhängigkeit eigentlich besteht.

Mit der Zeit, d.h. mit der Erfahrung, dass gute und böse Brust nur zwei Seiten einer Medaille sind und vorübergehende Frustration nicht der grundsätzlichen Zuwendung widerspricht (hoffentlich!), sollte die Liebe die Überhand gewinnen und der Hass abgemildert werden. Klein spricht vom Erreichen der «depressiven Position».

Diese Wortwahl ist deshalb gelungen, weil die zunehmende Integration beider Gefühle nicht zu eitel Sonnenschein führt. Denn die Akzeptanz der beiden widersprüchlichen Gefühle wird nicht zuletzt durch den Druck der Abhängigkeit befördert: Beggars can’t be choosers. Die umgekehrte Abhängigkeit von den Gefühlen des Kindes (geht es ihm gut, ist es zufrieden, wenn nicht sogar glücklich?) erleichtert die wechselseitige Anpassung aneinander.

Damit zur Antwort auf Ihre Frage: Man kann versuchen, herauszufinden, worin die fortwährende Abhängigkeit eigentlich besteht. Eventuell ändert sich dadurch etwas, und wenn diese Änderung auch nur darin besteht, dass man sich mit der Ambivalenz abfindet.

Der Psychoanalytiker Peter Schneider beantwortet Fragen zur Philosophie des Alltagslebens. Senden Sie uns Ihre Fragen an gesellschaft@tamedia.ch.