«Le Bled» in LausanneHier gibt es die 4-Zimmer-Wohnung für 2000 Franken
In einer Lausanner Genossenschaft wollen sie bereits heute wissen, wie wir künftig wohnen werden. Ein Besuch bei Aktivist und Architekt Laurent Guidetti.


Wer den Unterschied erkennen will, muss in die Höhe steigen. Erst hier, auf dem Dach des u-förmigen Gebäudes, tut es sich erkennbar hervor: das Haus der Genossenschafter neben dem Bau einer Pensionskasse. Hier grün, dort grau; hier Holz, dort Beton; eine Terrasse mit Gemüsegarten und Sonnensegel, ein kahles Dach mit Kies und Lüftungsschacht. «Die Ambiance», sagt Laurent Guidetti und breitet grinsend die Arme aus, «die spricht doch für sich.»
Die Ambiance, die mag sich einem am Rande dieser Grossbaustelle im Norden Lausannes noch nicht so recht erschliessen. Aber Guidetti – Architekt und urbaner Aktivist – glaubt an die Kraft von «Le Bled» – arabisch für Dorf –, wo er seit einem halben Jahr wohnt. Das «Bled» bildet zusammen mit vier weiteren Gebäuden das Baufeld E der Megaüberbauung Plaines du Loup, 20 solche Baufelder sollen bis 2034 stehen. Auf einem Gelände von 30 Hektaren entstehen 3500 Wohnungen für mehr als 12’000 Menschen. Der urbane Raum am Léman ist mit seinem enormen Wachstum die ideale Versuchsküche für architektonische Urbanisten.
Die ideale Versuchsküche für Urbanisten
In dieser Kleinstadt soll das «Bled» ein Dorfplatz sein, so zumindest schwebt es Laurent Guidetti vor. Was er und seine Mitstreiter seit dem Einzug im vergangenen Sommer dort veranstalten, ist genossenschaftliches Wohnen im grösseren Stil: 250 Leute verteilen sich auf 77 Wohnungen und neun Stockwerke. Es gibt Eigentümer und Mieter, dazu von der Stadt Einquartierte, es gibt WGs und Familien, Pärchen und Singles.
Die Überbauungen bringen Wohnraum, der dringend benötigt wird. Wohnraum aber auch, mit dem im grossen Stil spekuliert wird. Genau das will Guidetti mit dem «Bled» verhindern. «Hier bleibt das Geld im Haus, niemand erhöht einfach so die Mieten», sagt er. Und die sind billig im Vergleich. Drüben, im grauen Tower, dessen Wohnungen auf dem freien Markt zirkulieren, kostet die 4-Zimmer-Wohnung 3500 Franken pro Monat, im «Bled» sind es 2000 Franken.
Guidetti ist kein Genossenschaftsneuling. Mit seinem Architekturbüro Tribu ist er seit 25 Jahren im Geschäft und konzipiert immer wieder Bauten, die im Kollektiv bewohnt werden. Er hat die Vorbilder der Szene studiert: die Kalkbreite in Zürich, die CODHA in Genf, die Gesewo in Winterthur. Das «Bled» soll die Krönung für ihn und sein Büro sein, das im Erdgeschoss Räumlichkeiten bezogen hat.
In Lausanne ist der 53-jährige Guidetti ein bekanntes Gesicht. Als aktivistischer Student, später als Stadtrat für die SP und als Architekt hat er das Bild der Stadt mitgeprägt. Das «Bled» wurde zu seinem Herzensprojekt, er ist Gründer der Genossenschaft, Planer des Baufelds – und, wie so viele hier, auch Investor.
Eigentümer zahlen 20 Prozent Aufschlag
Der Mix mit Mietern und Eigentümern im «Bled» ist für Genossenschaften ungewöhnlich. Guidetti selber hat die 140 Quadratmeter seiner 5-Zimmer-Wohnung für 950’000 Franken erworben. Mieter zahlen 5, Eigentümer 20 Prozent Aufschlag auf ihre Preise, so wird die gemeinschaftliche Fläche von insgesamt 800 Quadratmetern auf dem ganzen Areal finanziert: Mehrzweckraum, Bastelatelier, Dachterrasse, Lesesaal. Diese Räume bespielen sich von selbst, so schildert es zumindest Guidetti. Auf dem Dach entsteht eine Sauna, im Gemeinschaftsraum probt ein Chor, mittags isst man zusammen mit den Kindern von der anliegenden Schule.
Daneben gibt es die Regel, dass eine Partei nur ein Zimmer mehr haben darf, als sie Köpfe zählt, weswegen manche Wohnungen in Cluster organisiert sind. Guidetti also muss seine 5-Zimmer-Wohnung wieder teilen, wenn seine drei Kinder ausgezogen sind, so will es das Genossenschaftsstatut. Ideal sei das, schwärmt er. «So wird mit dem Wohnraum auch nicht spekuliert.»



Es geht weiter auf dem Rundgang. Guidetti ist der Patron im Haus, er schüttelt hier eine Hand, klopft da auf eine Schulter, der irgendwo zwischen Uni-Campus und Familienpicknick oszillierende Groove scheint ihm zu behagen. Hinter die Diversität der Bewohnerschaft setzt man bald einmal ein Fragezeichen, der Geist ist klar linksgrün-urban. Auf dem Rundgang mit Guidetti begegnet man Bewohnern wie der Architektin Dominique von der Mühll. Sie hat zuvor schon auf einem Bauernhof ausserhalb der Stadt gemeinschaftlich gewohnt und sagt: «Jeder kann sich hier so viel einbringen, wie er möchte, so weit gehen, wie ihm dabei wohl ist.»
Guidetti geht weit. Auf seinem Balkon präsentiert er stolz ein mannshohes Fass. «40 Grad», liest er die Innentemperatur ab. Er sammelt seine Ausscheidungen, lässt sie zu Kompost werden. «Ich spare so einen guten Teil der 140 Liter Wasser ein, die wir pro Tag verbrauchen.»

Es wäre landläufigen Massstäben zufolge ein Leichtes, Laurent Guidetti als Freak zu bezeichnen. Als junger Architekturstudent war er begeistert vom Improvisationstheater – der Rededrang von damals ist geblieben. Später im Stadtrat zoffte er sich leidenschaftlich mit politischen Gegnern, bis er merkte, dass sich mehr bewegen lässt, wenn er seinen Beruf einfach etwas aktivistischer angeht.
2019 veröffentlichte Guidetti in einer Architekturzeitschrift eine einigermassen abenteuerliche Dystopie des Jahres 2100, die eine krisenversehrte (nach einem Bürgerkrieg in Vevey!), heruntergewirtschaftete Schweiz beschreibt, in der die Menschen zurückgezogen leben. Die Technikgläubigen kommen in diesem Text eher schlecht weg, künstliche Intelligenz ist ein leeres Versprechen.
Guidettis Manifest sorgte für Aufregung
In einem anderen Text der gleichen Ausgabe ist die Schweiz vor allem ein Land mit zwei verschmolzenen Megagrossstädten: Basel-Zürich und Lausanne-Genf. Es ist der Ort, an dem Guidetti mit dem «Bled» seine kleine Utopie angesiedelt hat. Der Rückzug aufs Land ist für ihn keine Option, auch wenn sein CO₂-Ausstoss im Vergleich zu den meisten Stadtmenschen um ihn herum geringer ausfallen dürfte. 4,6 Jahrestonnen soll er noch betragen, rechnet Guidetti vor – wenig im Vergleich zu den 14 Tonnen des durchschnittlichen Schweizers. Seit 21 Jahren ist er nicht mehr geflogen, seit 15 Jahren besitzt die Familie kein Auto mehr – und wenn der Judo-begeisterte Sohn eine Reise nach Japan plant, so sorgt das am Familientisch natürlich für Diskussionen. «Ja, ich kann eine Spassbremse sein, wenn man unter Spass so was versteht, aber ich finde, man muss sich mit seinem Tun schon auseinandersetzen.»
Während Corona schrieb Laurent Guidetti ein kleines Buch, das «Manifeste pour une révolution territoriale», eine Art Empfehlungsschreiben für eine nachhaltige Architektur in der Schweiz. 4500 Exemplare liess er 2020 drucken, auf dem Cover prangten rote Lettern auf schwarzem Grund, mit dieser Dringlichkeit verschickte er es an alle Westschweizer Mitglieder des Ingenieur- und Architektenvereins.


«Architektur ist unweigerlich politisch», sagt Guidetti dazu, «weil sie mit entscheidet, welchen Lebensstil wir pflegen.» Stolz hebt er hervor, dass er mit seinem Büro bis heute kein einziges Einfamilienhaus auf dem Land gebaut hat. Ist das linke Architektur, Herr Guidetti? «Wenn rechte Architektur bedeutet, mit dem Raum verschwenderisch umzugehen und fragwürdige Anreize für Konsum zu schaffen, dann mache ich linke Architektur!»
Silo mit Holzpellets ersetzt die defekte Wärmepumpe
Welche Ideen aus seinem Manifest glaubt er denn jetzt mit dem Wohnprojekt «Bled» umgesetzt zu haben? Eigentlich wäre es ja wichtig, keine neuen Häuser mehr zu bauen, gibt er zu. Aber im Falle des «Bled» sei das nicht nur wegen des nicht spekulativen Genossenschaftsgedankens, sondern auch dank einer Erdsondenheizung, der Wiederverwertung von Regenwasser und der Abwesenheit von Garagen als Gesamtkonzept vertretbar. Und daneben hofft er, mit dem Wohnmix aus Mietern und Eigentümern sowie der vielfältigen Nachbarschaft viele verschiedene Mentalitäten zu versammeln. Dem Vorwurf der fehlenden Diversität hält Guidetti als Argument den Teil der Mieter entgegen, die durch die Stadt einquartiert worden sind. «Wir haben uns keine Blase geschaffen, es gibt hier ein Bewusstsein für viele Lebensformen.»
Der Rundgang ist zu Ende, von der Dachterrasse ist man wieder im Erdgeschoss angelangt, und als ob es der Boden der Realität wäre, wirft direkt neben dem Gebäude ein grosses Silo Fragen auf. Da seien Holzpellets drin, sagt Guidetti. Eine der Sonden sei ausgefallen. «Auch das gehört dazu», sagt er und lacht.



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