Analyse zu MigrationDer Ansturm ist so epochal, dass Europa jetzt helfen muss
Die Mittelmeerinsel Lampedusa versinkt im Chaos. Italien kann das Problem nicht alleine lösen. Die EU-Länder müssen sich an einer Lösung beteiligen: ernsthaft, umfassend, schnell.
Leider braucht es immer wieder diese besonderen Bilder und Erzählungen, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Obwohl schon der Alltag unentwegt diese Aufmerksamkeit verdient hätte. Jetzt sind es die italienischen Polizisten, die im Hafen von Lampedusa versuchen, die Ordnung aufrechtzuerhalten, wo nichts mehr in Ordnung ist. Das fünf Monate alte Kind, das ins Wasser fällt und ertrinkt, als die Küstenwache Migranten von einem Boot an Land bringen wollte. Der Bürgermeister, der einen Hilferuf an die Welt absetzt und den Notstand ausruft. Der Einwohner, der auf dem Weg zu einem Fest umkehrt und Spaghetti kocht für zehn Menschen aus Burkina Faso, die vor seiner Tür stehen und Hunger haben.
Nun also ist Lampedusa, sind die nach Europa flüchtenden Bootsreisenden in allen Nachrichten – obwohl es seit Monaten, seit Jahren jeden Tag Anlass genug gegeben hätte, darüber zu reden, was sich da gerade vor und an den Küsten Europas ereignet. Es ist eine grosse Tragödie, ein grosses Versagen, eine grosse Schmach nicht nur für Italien, auch für Europa.
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In Europa machen sich gerade viele Regierungen einen schlanken Fuss. Natürlich, es sind zuerst die Italiener, die sich der Situation stellen müssen, sie sind am nächsten dran. In der EU gilt die Regel, dass die Mitgliedstaaten für die Sicherung der jeweils in ihrer Hoheit liegenden Aussengrenze zuständig sind und damit auch für die Umgang mit Migranten, die auf ihr Territorium kommen. Aber der Ansturm aus dem Süden, der viele Gründe hat von Bürgerkrieg bis Klimawandel, ist so epochal, dass Europa helfen muss. Ernsthaft, umfassend, schnell. Aber es wird ein bisschen geredet, meistens in den Brüsseler Konferenzsälen, und das war es dann.
Noch ist Italien fast alleine mit dieser Situation, und das ist nicht gut. Giorgia Meloni, die Ministerpräsidentin und Vorsitzende der postfaschistischen Fratelli d’Italia, hat immerhin der Versuchung widerstanden, den lauten Tönen im Wahlkampf – wir errichten eine Blockade auf See und niemand kommt mehr rein – in der Realität nachzueifern.
Meloni ist ratlos
Sie sagt zu ihren Anhängern und Wählerinnen jetzt Sätze wie: Ich weiss, das ist schwer zu erklären, aber das Ganze ist ziemlich kompliziert, und wir haben noch keine Lösung. Aber sie hat auch nicht wirklich dafür gesorgt, die Situation kurzfristig zu entschärfen, Situationen wie jetzt auf Lampedusa zu verhindern, wo sich Tausende Geflüchtete auf einer kleinen Insel drängen. Es kann doch nicht sein, dass dieses grosse und reiche Land, die drittstärkste Wirtschaftsnation der EU, Mitglied der globalen G7, nicht in der Lage sein soll, einige hunderttausend Migranten im Jahr aufzunehmen, menschenwürdig zu behandeln und im Land zu integrieren?
Ein Land wohlgemerkt, das wie kein anderes in Europa in einer demografischen Krise ist und in wenigen Jahren um Millionen Einwohner und Arbeitskräfte ärmer sein wird – eine tickende Zeitbombe. Meloni sieht dieses Problem, wenn man ihre Äusserungen richtig deutet, aber sie hat mit dem Chef der rechtspopulistischen Lega, Matteo Salvini, einen Partner an der Seite, der gerade wieder voll aufdreht. Er interpretiert die tragische Situation in Lampedusa als eine Verschwörung gegen Italien, einen Krieg Tunesiens, wo die Flüchtenden in ihrer Mehrheit, gegen sein Land, begünstigt durch die Niederträchtigkeit eines sozialistischen Europas, das er an diesem Wochenende bei einem demonstrativen Treffen mit Frankreichs Rechtsaußenikone Marine Le Pen erneut verunglimpfen wird. Wer so denkt, wird die Migration nie in den Griff bekommen, ausser vielleicht mit nackter Gewalt. Aber was wäre das denn für eine Politik.
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