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Interview mit Wirtschaftshistoriker
Was ist eigentlich Kriegswirtschaft?

Russia: Almaz-Antey production facility in Moscow RUSSIA, MOSCOW - JUNE 7, 2023: Men assemble air defence missiles as Russia s Defence Minister Shoigu not pictured visits a production facility of the Almaz-Antey Corporation to ensure the fulfilment of the state defence order. Vadim Savitsky/Russian Defence Ministry Press Office/TASS/Sipa USA Moscow Russia NOxUSExINxGERMANY PUBLICATIONxINxALGxARGxAUTxBRNxBRAxCANxCHIxCHNxCOLxECUxEGYxGRExINDxIRIxIRQxISRxJORxKUWxLIBxLBAxMLTxMEXxMARxOMAxPERxQATxKSAxSUIxSYRxTUNxTURxUAExUKxVENxYEMxONLY Copyright: xTASSx Editorial use only
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Russlands Präsident Wladimir Putin hat vorgestern mit Andrei Beloussow einen Ökonomen zum Verteidigungsminister ernannt. Dieser soll für mehr wirtschaftliche Effizienz und weniger Korruption im Krieg gegen die Ukraine sorgen. Überrascht hat die Auswechslung nicht. Denn seit Beginn des Feldzugs gegen den Nachbarstaat wandelt sich Russlands Ökonomie allmählich hin zu einer Kriegswirtschaft.

Das Wort «Kriegswirtschaft» wurde 1914 mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs geläufig. Damals geriet das Handelssystem aus dem Lot. Für Handel und Personenverkehr waren die Grenzen geschlossen, die Industrie wurde auf die Kriegsmaschinerie ausgerichtet, Arbeitskräftemangel infolge der Rekrutierung Tausender Männer: Das sind die drei wichtigsten Faktoren, welche die Staaten zwingen, neue Regeln zur Austarierung der wirtschaftlichen Bedürfnisse zu finden.

Was aber ist «Kriegswirtschaft» genau? Welche Folgen hat sie? Und ab wann bekommt die Bevölkerung sie zu spüren? Albrecht Ritschl hat das Thema als Professor der Wirtschaftsgeschichte an der London School of Economics erforscht und kennt die Antworten.

Herr Ritschl, gibt es eine allgemein akzeptierte Definition von «Kriegswirtschaft»?

Keine allgemeine, die Unterschiede sind oft graduell. In einer Kriegswirtschaft requiriert der Staat Güter, Kapital und Arbeitsleistungen, die der Markt nicht von selbst bereitstellen würde. Typische Erkennungsmerkmale sind Bewirtschaftungsmassnahmen, Mangelwirtschaft, Preiskontrollen sowie die Ausschaltung von Finanzmärkten.

Tritt Russland aktuell in eine Phase der Kriegswirtschaft ein?

Dieser Übergang hat sich schon vor einiger Zeit vollzogen. Ansätze einer Kriegswirtschaft mit stark gesteigerten Rüstungsausgaben gab es bereits vor 2022. In der Folgezeit hat die russische Führung offenbar versucht, den Eindruck friedensmässiger Normalität zu vermitteln. Im Dritten Reich gab es das geflügelte Wort von einer Kriegswirtschaft in Friedenszeiten, die abgelöst worden sei von einer Friedenswirtschaft in Kriegszeiten. Man weiss heute, dass diese Vorstellung keine Entsprechung in den Daten findet. Die seinerzeit laut propagierte Beschleunigung der Rüstungsanstrengung fand weitgehend in der amtlichen Statistik statt. Russlands Situation heute ist sehr verschieden, und mit Nazivergleichen soll man sich ohnehin zurückhalten. Aber es bleibt abzuwarten, ob der jüngste Personalwechsel die russische Wirtschaft auf einen erfolgreicheren Kurs bringt. Sicher ist nur, dass die Erwartung eines Blitzsiegs über die Ukraine enttäuscht worden ist und es nun darum geht, einen wirtschaftlichen Abnützungskrieg durchzustehen – mit höchst ungewissem Ausgang.

Betreibt die Ukraine Kriegswirtschaft?

Da bin ich mir nicht sicher. Nach dem ersten Schock hat sich die ukrainische Volkswirtschaft ein Stück weit erholt. Kriegswirtschaftliche Zwangsmassnahmen sind bislang weitgehend ausgeblieben. Auch hier bleibt abzuwarten, was der weitere Fortgang bringt.

Was geschieht, wenn Russland Kriegswirtschaft betreibt, die Ukraine hingegen nicht?

Der Ausgang eines Kriegs hängt letztlich von den wirtschaftlichen Kräfteverhältnissen ab. Für die USA mit ihren ungeheuren Ressourcen sind Kriege oder auch nur ein Wettrüsten wirtschaftlich deutlich leichter durchzustehen als für ihre Gegner. Das war im Zweiten Weltkrieg so und umso mehr im Kalten Krieg bis 1989. Es gilt im Prinzip auch heute.

epa10605954 Russian people walks near the advertising of service in the army under a contract screen on the screen shows a Russian soldier and a slogan 'Join your' in metro station in Moscow, Russia, 03 May 2023. On 24 February 2022 Russian troops entered Ukrainian territory in what the Russian president declared as a 'Special Military Operation', starting an armed conflict.  EPA/YURI KOCHETKOV

Welche negativen Folgen hat die Kriegswirtschaft für die Ökonomie eines Landes?

Die Bewirtschaftung des Mangels und die zwangsweise Umlenkung von Ressourcen für den Kriegsbedarf sind ordnungspolitische Grausamkeiten und führen die Volkswirtschaft regelmässig auf nicht nachhaltige Verschuldungspfade. Diese Kosten werden während des Kriegs nach Möglichkeit verschleiert und treten danach umso stärker hervor. Inflationen, Währungsschnitte, Einkommens- und Vermögensverluste sowie schwere Rezessionen sind typische Erscheinungen des Übergangs zu einer Friedenswirtschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg dauerte es gut 25 Jahre, bis Europas Volkswirtschaften zum Trend wieder aufgeschlossen hatten.

Gibt es auch positive Folgen einer Kriegswirtschaft?

Polemisch gesagt: Es gibt keine. Viele würden das anders sehen. Denn immerhin gibt es zu Kriegszeiten Vollbeschäftigung, Solidarität, die aufopferungsvolle Hingabe an den höheren Zweck, alles Dinge, die positiv konnotiert sind. Eigennutz und Konkurrenz treten in den Hintergrund. Aller Sozialismus hat davon geträumt, etwas davon auf eine Friedenswirtschaft zu übertragen, die historischen Quellen sind voll davon. In der Praxis hat das aber immer bedeutet, die kriegsbedingte Zwangswirtschaft in Friedenszeiten fortzusetzen. In England gab noch bis in die Fünfzigerjahre Lebensmittelrationierung. Die Plankennziffern aus der Kriegswirtschaft des Dritten Reichs wurden in der DDR, dem ostdeutschen Teilstaat, noch für lange Jahre fortgeschrieben, mehrere Ansätze zur Reform sind gescheitert.

Verhindert Kriegswirtschaft Innovation oder fördert sie diese?

Beides. Innovationen werden gefordert und gefördert, soweit als kriegswichtig erkannt. Anderswo werden sie behindert, weil sie Ressourcen in Anspruch nehmen, die man für anderes dringender braucht.

Wann bekommt die Bevölkerung die Kriegswirtschaft zu spüren?

Der Unterschied ist zunächst graduell, bemerkbar in einem steigenden Staatsanteil an der Wirtschaftsleistung eines Landes. Sobald Nachhaltigkeitsschwellen überschritten werden, machen sich marktwidrige Staatseingriffe bemerkbar, insbesondere Rationierungen und Preiskontrollen. Das Warenangebot verknappt sich, die Qualität wird schlechter, Schwarzmärkte mit horrenden Preisen entstehen. Nicht mehr das Geld, sondern der Warenbezugsschein hat Kaufkraft, und im Extremfall auch dieser nicht mehr. In den Bauernhöfen und Landbeizen Westdeutschlands stapelten sich nach dem Krieg die Teppiche und Silbersachen der Städter, die auf sogenannten Hamsterfahrten ihre Wertgegenstände für ein paar extra Lebensmittel versetzten.