Krieg und Krise in IsraelNetanyahu erleidet zu Hause empfindliche Niederlage
Israels Oberste Richter wollen sich nicht selbst entmachten und lehnen ein Kernelement der umstrittenen Justizreform ab. Die Regierung reagiert wütend.
Mitten im Krieg wird Israel von einer fernen Vergangenheit eingeholt, die kalendarisch nicht einmal drei Monate zurückliegt. Das oberste Gericht in Jerusalem hat ein Kernelement der sogenannten Justizreform verworfen, mit dem die rechtsreligiöse Regierung von Premierminister Benjamin Netanyahu nach Ansicht von Kritikern das demokratische Prinzip der Gewaltenteilung aushebeln wollte. Die Entscheidung ist ein Erfolg der breiten Protestbewegung, die monatelang gegen die Regierungspläne mobil gemacht hatte. Regierungsvertreter aber werfen dem Gericht in wütenden Attacken nun vor, das Land in Kriegszeiten einer neuerlichen Zerreissprobe auszusetzen.
Für nichtig erklärt wurde vom Gericht am Montagabend mit einer äusserst knappen Mehrheit von 8:7 Stimmen ein im Juli vom Parlament verabschiedetes Gesetz, das den Richtern die Möglichkeit genommen hätte, Entscheidungen der Regierung als «unangemessen» zurückzuweisen. Insgesamt acht Petitionen waren dazu eingebracht worden, in denen vor Willkür und Korruption gewarnt wurde, weil eine Entmachtung der Justiz das Regierungshandeln einer entscheidenden Kontrolle entzogen hätte. Im September hatte das Gericht dazu eine öffentliche Anhörung abgehalten und sich dann zur Beratung zurückgezogen.
Erstmals alle obersten Richter beteiligt
Angesichts der Bedeutung des Falls waren zum ersten Mal in Israels Geschichte alle 15 obersten Richter gemeinsam in diesen Fall eingebunden worden. Letztlich hatten sie über ihre eigene Entmachtung zu urteilen. In der Entscheidung heisst es, dass die zurückgewiesene Gesetzesänderung «den Kerneigenschaften des Staates Israel als demokratischem Staat schweren und beispiellosen Schaden zugefügt» hätte.
Bedeutsam ist zudem, dass in diesem Fall vom obersten Gericht erstmals ein sogenanntes Grundgesetz gekippt wurde. In Ermangelung einer Verfassung hat ein Bündel solcher Grundgesetze in Israel gleichsam Verfassungsrang, obwohl es für ihre Verabschiedung kein besonderes Prozedere braucht und sie in der Knesset, dem Parlament, mit Regierungsmehrheit verabschiedet werden können. Um ihr Vorhaben möglichst unangreifbar zu machen, hatte die Regierung die Abschaffung der «Unangemessenheitsklausel» in ein solches Grundgesetz gepackt und mit dem warnenden Hinweis versehen, dass das oberste Gericht nicht die Kompetenz besitze, es zurückzuweisen.
Auch in dieser juristischen Grauzone haben die Richter mit ihrer Entscheidung nun Klarheit geschaffen, und dies noch weit deutlicher als im eigentlichen Fall. 12 der 15 Richter urteilten, dass das oberste Gericht durchaus die Autorität besitze, in besonders extremen Fällen auch bei Grundgesetzen einzugreifen und die Knesset in ihre Schranken zu weisen.
Entscheidung mitten im Krieg
Dass die Entscheidung mitten im Krieg gefällt und publik gemacht wurde, hat keinen politischen, sondern einen verfahrenstechnischen Hintergrund. Zwei Richterinnen aus dem Gremium der 15 – unter ihnen die Gerichtspräsidentin Esther Chajut – waren Mitte Oktober nach Erreichen der Altersgrenze von 70 Jahren in den Ruhestand verabschiedet worden. Von diesem Zeitpunkt an blieben ihnen noch drei Monate, um anstehende Fälle zu Ende zu bringen. Diese Frist wäre am 12. Januar abgelaufen. Die beiden Stimmen der ausgeschiedenen Richterinnen gaben den Ausschlag für die knappe Mehrheit.
Solche Verfahrenszwänge hinderten Regierungsmitglieder nicht daran, Druck auf die Richter auszuüben. Als in der vorigen Woche in einem bislang einmaligen Vorgang ein Entwurf der Gerichtsentscheidung vom israelischen Fernsehsender Channel 12 publik gemacht wurde, schwoll sogleich der Chor der Kritiker an. Das verstärkte sich noch nach der offiziellen Bekanntgabe.
Justizminister forderte Aufschub
Justizminister Yariv Levin, Architekt der Justizreform, hatte das Gericht nach der TV-Veröffentlichung bereits aufgefordert, die Urteilsverkündung bis nach dem Krieg zu verschieben. Nun wetterte er in Richtung der Richter: «Während unsere Soldaten Seite an Seite an verschiedenen Fronten kämpfen und während die ganze Nation über den Verlust vieler Leben trauert, darf das Volk Israel nicht durch Streitigkeiten zerrissen werden.»
Von Premier Netanyahu war zunächst nichts zu hören, aber in einer Erklärung seiner Likud-Partei heisst es, die Gerichtsentscheidung «widerspricht dem Willen des Volkes nach Einigkeit vor allem in Zeiten des Kriegs». Der rechtsextreme Minister für Innere Sicherheit Itamar Ben-Gvir warf den Richtern vor, mit ihrer Entscheidung den Kampfgeist der Soldaten zu schwächen.
Patriotische Aufrufe wirken schal
Solche Dolchstoss-Legenden und patriotischen Aufrufe zur Einheit wirken schal angesichts der tiefen Spaltung, die die Regierung mit ihren Justizplänen selbst hervorgerufen hatte. Hunderttausende Menschen auf den Strassen, ein Generalstreik und ernste wirtschaftliche Folgen hatten die rechte Koalition nicht von ihrem Kurs abgebracht. Ignoriert wurden auch die möglichen Folgen für Israels Sicherheit, als die Protestwelle das Militär erreichte und Tausende Reservisten ankündigten, den Dienst zu verweigern, wenn Israels Demokratie in der geplanten Form beschädigt werde.
Erst der Krieg hat das Land schlagartig wieder vereint. In einer ersten Reaktion auf den Jerusalemer Richterspruch verwies Armeesprecher Daniel Hagari darauf, dass Israels interne Krise einer der Gründe gewesen sein könnte, dass die Hamas den Terrorangriff am 7. Oktober auf ein vermeintlich geschwächtes Land gewagt hatte.
Regierungsvertreter haben trotz aller wütenden Worte bisher nichts darüber gesagt, ob nach einem Sieg der Kampf um die Justizreform wieder aufgenommen werden soll. Voraussichtlich werden sie nach dem Krieg andere Prioritäten und Probleme haben. Premier Netanyahu muss ums politische Überleben kämpfen, und es ist schwer vorstellbar, dass er ein solch kontroverses Projekt wieder aufleben lässt.
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