KriegsverbrechenIn Kosovo wurden einst 10’000 Menschen getötet – dieser Forscher liefert erstmals seriöse Zahlen
25 Jahre nach dem Kosovokrieg gibt es endlich die erste umfassende Darstellung der serbischen Massenverbrechen. Entstanden ist sie auch dank Schweizer Hilfe.
- Der kosovarische Politologe Shkëlzen Gashi hat eine umfassende Studie zu Kriegsverbrechen in seinem Land veröffentlicht.
- Das Forschungswerk dokumentiert Massaker und Gräueltaten während des Kosovokriegs ausführlich.
- Serbiens Polizei, Armee und Paramilitärs verübten 103 von 105 dokumentierten Massakern in Kosovo.
- Viele Täter sind noch immer frei.
Der letzte Krieg im Europa des 20. Jahrhunderts fand in Kosovo statt. Er brach im Frühling 1998 aus und endete kurz vor Sommerbeginn des darauffolgenden Jahres – nach einer Nato-Intervention, die einen drohenden Völkermord verhinderte. Innerhalb von 15 Monaten hatten die serbischen «Sicherheitskräfte» – bestehend aus Polizei, Armee und paramilitärischen Banden – über 10’000 Kosovo-Albaner getötet. Fast eine Million Menschen wurden aus ihren Häusern und Wohnungen vertrieben.
Ein Vierteljahrhundert ist seit diesem Krieg vergangen – und endlich ist jetzt in Kosovos Hauptstadt Pristina die erste fundierte und umfassende Übersicht der serbischen Massenverbrechen in Kosovo erschienen. Die Recherchen an dieser Darstellung haben fast fünf Jahre gedauert – länger als der Krieg. Autor der Studie mit dem trockenen Titel «Massaker in Kosovo» ist der Politologe Shkëlzen Gashi.
Drei Schritte für die Versöhnung
Bereits während der Lektüre wird klar, dass es dem kosovarischen Wissenschaftler nicht um effekthascherische Leichenaufrechnerei geht, sondern um die ganze Wahrheit. Dazu gehören auch die Racheaktionen der kosovarischen Unabhängigkeitskämpfer an Angehörigen der Minderheiten – vor allem Serben und Roma –, die Gashi in seinem Forschungswerk selbstverständlich erwähnt.
Er habe die Kriegsverbrechen ausführlich dokumentiert mit dem Ziel, allen Opfern Respekt zu zollen, so der streitbare Publizist. Motiviert habe ihn der französische Philosoph und Friedensstifter Paul Ricœur. Dieser zählt drei Schritte auf als Voraussetzung für die Versöhnung zwischen den Völkern: Zuerst müsse man die Wahrheit ans Licht bringen, dann Reue zeigen und schliesslich um Vergebung bitten. Davon sind Serbien und Kosovo noch weit entfernt. Sollte es hoffentlich eines nicht allzu fernen Tages dazu kommen, wird diese Arbeit von Gashi eine wichtige Grundlage sein. (Lesen Sie zum Thema auch den Artikel «Der lange Schatten des Kosovokriegs).
Sie stützt sich auf mehrere glaubwürdige Quellen wie eigene Recherchen, Zeugenbefragungen, Berichte internationaler Menschenrechtsorganisationen und westlicher Medien sowie Angaben des UNO-Kriegsverbrechertribunals. Die dreisprachige Studie – Albanisch, Serbisch und Englisch – enthält neben der detaillierten Beschreibung der meisten Massaker in ganz Kosovo auch zahlreiche Abbildungen, die teilweise schwer erträglich sind. Vergewaltigte Frauen, hingerichtete Männer, in den Armen ihrer Mütter getötete Kinder, im Todeskampf erstarrte Alte, in Brunnen geworfene Opfer: Hier zeigt sich der Krieg gegen unschuldige Zivilisten in seiner ganzen Grausamkeit.
Die Körper fielen reihenweise auf den Boden
In der Nacht vom 1. auf den 2. April 1999 beispielsweise drangen serbische Sonderpolizisten in das Haus einer Grossfamilie in der westkosovarischen Stadt Gjakova ein. Die Männer waren bereits geflohen, um einer drohenden Hinrichtung durch die Schergen des Belgrader Regimes zu entkommen. Zurück blieben 20 Frauen und Kinder und ein geistig behinderter Mann.
Was jetzt folgte, waren kaltblütige Morde: Die Polizisten eröffneten das Feuer, die Körper fielen reihenweise auf den Boden. Durch die Schüsse brach ein Feuer aus, und die Täter konnten sich zurückziehen in der Annahme, dass die Flammen die Spuren ihres Verbrechens vernichten würden. In diesem Chaos versuchte der neunjährige Bub Dren Caka, selbst schwer verletzt, seine kleine Schwester zu retten, die unter dem leblosen Körper ihrer Mutter röchelte. Als er im Rauch zu ersticken drohte, gab er auf.
Dren ist der einzige Überlebende des Massakers und hat Jahre später im Prozess gegen hochrangige serbische Politiker, Armeechefs und Polizeikommandanten vor dem UNO-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag ausgesagt. Der junge Mann lebt mittlerweile in Kanada.
83 Massaker werden in der Studie chronologisch geordnet – mit Zeit, Ort, Umständen, Anzahl und Alter der Opfer, ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht. In 22 weiteren Fällen fehlen immer noch genaue Angaben, diese Gräueltaten werden deshalb nur tabellarisch dargestellt. Von insgesamt 105 Massakern gehen 103 auf das Konto der serbischen Sicherheitskräfte.
Das erste wurde Ende Februar 1998 verübt, als die serbische Polizei nach Zusammenstössen mit kosovo-albanischen Widerstandskämpfern sich an 20 unbewaffneten Albanern rächte. Unter den Opfern war auch ein 16-jähriges Mädchen. Das letzte Gemetzel fand Ende Juli 1999 statt, mehr als einen Monat nach offiziellem Kriegsende: In einem Dorf unweit von Pristina wurden 14 serbische Bauern erschossen – höchstwahrscheinlich von kosovo-albanischen Rächern.
Milosevics Plan
Die Brutalität der serbischen Staatsmacht nahm ab dem 24. März 1999 dramatisch zu: An diesem Tag begann die Nato mit der Bombardierung der serbischen Armee und Polizei, um der systematischen Verfolgung der kosovo-albanischen Mehrheitsbevölkerung ein Ende zu setzen. Der damalige serbische Diktator Slobodan Milosevic sah jetzt die Chance gekommen, mit einer massiven und gut geplanten Terror- und Einschüchterungskampagne so viele Kosovo-Albaner wie möglich aus ihrer Heimat zu vertreiben.
Um das Ziel zu erreichen, wurden innerhalb von wenigen Wochen im Frühjahr 1999 in der Weinregion Rahovec über 300 Menschen niedergemetzelt, im Dorf Mejë im Westen Kosovos töteten die serbischen Streitkräfte fast 350 Albaner muslimischen und katholischen Glaubens und zogen in Dutzenden weiteren Dörfern und Kleinstädten eine lange Blutspur. Fast die Hälfte der zwei Millionen Einwohner Kosovos fand damals Zuflucht in den Nachbarstaaten Albanien und Mazedonien. Um das Leben der eigenen Soldaten zu schützen, waren die Nato-Staaten nicht bereit, mit Bodentruppen zu intervenieren.
Nach 78 Tagen Luftangriffe auf Serbien kapitulierte Milosevic und zog seine Truppen aus Kosovo zurück. Die Provinz wurde unter internationale Verwaltung gestellt. 2008 erfolgte die Unabhängigkeitserklärung Kosovos mit westlicher Unterstützung.
Die Täter werden als Helden glorifiziert
Ein Satz durchzieht fast die ganze Studie von Shkëlzen Gashi: «Für dieses Massaker wurde bis heute niemand verurteilt, ja nicht einmal vor Gericht gestellt.» Zwar hat das UNO-Tribunal für die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien mehrere politische und militärische Führer Serbiens zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt, die unmittelbaren Befehlshaber und Täter leben aber bis heute frei und werden als Helden glorifiziert.
Slobodan Milosevic, der Hauptverantwortliche für die Gräueltaten, starb während des Gerichtsprozesses in seiner Zelle an Herzversagen – ohne Schuldspruch. Die Anklagebehörde unter der Leitung von Carla Del Ponte verzettelte sich oft, anstatt sich auf die wichtigsten Punkte und Zeugen zu konzentrieren.
«Katalog von Massenverbrechen»
Der serbische Schriftsteller Dejan Tiago-Stankovic, der die Übersetzung der Studie auf Serbisch betreut hat, schrieb kurz vor seinem Tod im vergangenen Jahr, er habe diesen «Katalog von Massenverbrechen» mit Schrecken gelesen: «Ich wusste das alles nicht. Was genau geschah im Jahr 1999? Ich wusste es nicht, weil ich es nicht wissen wollte. (...) Die überwältigende Mehrheit der Verbrecher wurde nicht ausfindig gemacht und nicht bestraft. Die Serben verstecken ihre Verbrechen in Kosovo vor sich selbst. Diese Wahrheit findet keinen Platz in den Texten, die Medien befassen sich kaum damit, und Filme darüber schaffen es nicht ins Fernsehen. Es ist offensichtlich, dass wir gemeinsam den Mythos verteidigen, dass Serben immer Opfer und niemals Täter sind. Was nützt es, zu lügen?»
Es nützt nichts. Das gilt auch für die kosovo-albanische Gesellschaft, die nur den eigenen Kriegshelden huldigt. Dagegen wehren sich kritische Publizisten wie Shkëlzen Gashi, obwohl sie oft als Verräter diffamiert werden.
Seine Arbeit an der dokumentierten Übersicht der Kriegsverbrechen in Kosovo wurde von mehreren Nichtregierungsorganisationen, westlichen Stiftungen und von der Schweizer und der schwedischen Botschaft in Pristina finanziert. Damit haben sie einen wichtigen Beitrag geleistet gegen Fake News, Verschwörungstheorien und die Verzerrung der historischen Tatsachen. Wer sich für die Wahrheit des Kosovokriegs interessiert, ist mit diesem zwei Kilogramm schweren Buch voller Fakten bestens bedient.
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