Analyse der UnruhenEin Funken reichte für die Eskalation im Kosovo
Der Kosovo kommt nicht zur Ruhe. Pristina versucht im mehrheitlich serbisch besiedelten Norden seinen Machtanspruch durchzusetzen, von Belgrad gesteuerte Hooligans reagieren mit Gewalt und die Nato-Schutztruppe KFOR gerät zwischen die Fronten. Wie konnte es soweit kommen?
Serben mit Schlagstöcken, brennende Autos, verletzte Soldaten der Nato-Schutztruppe am Boden. Es sind Bilder des Scheiterns. Zweimal hat der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell in den letzten Monaten einen Deal verkündet, einen Durchbruch zwischen Belgrad und Pristina im Streit um die Zukunft Kosovos.
Nun eine neue Eskalation der Gewalt im Norden der ehemals von Belgrad kontrollierten Provinz, mit mehr als 30 verletzten KFOR-Soldaten am Pfingstwochenende. Nein, der Dialog zwischen Belgrad und Pristina sei «nicht tot», sagte am Dienstag ein Sprecher von Josep Borrell. Doch die EU und die USA als Co-Sponsoren der Gespräche zwischen dem serbischen Präsidenten Aleksandar Vucic und Kosovos Regierungschef Albin Kurti stehen vor dem Scherbenhaufen ihrer Vermittlungsbemühungen.
Wie konnte es zur Eskalation kommen? Am Wochenende wollten neugewählte Bürgermeister in vier Gemeinden im Norden Kosovos ihre Arbeit aufnehmen. Angehörige, Aktivisten und Hooligans der serbischen Minderheit versuchten dies mit Unterstützung aus Belgrad zu verhindern. Die Kosovo-Polizei versuchte die Bürgermeister zu eskortieren, doch am Ende musste die KFOR-Schutztruppe sich dazwischenstellen, wurde dabei selber zur Zielscheibe auch von Gangmitgliedern, zum Teil aus Belgrad bestellt und gesteuert.
Rekordtiefe Wahlbeteiligung nach Boykott auf Anordnung Belgrads
Die Angriffe seien «inakzeptabel», sagte KFOR-Kommandant Angelo Michele Rusticcia. Die Nato-Mission werde ihr Mandat weiterhin «unparteiisch» erfüllen und ihre Präsenz verstärken. Nach Darstellung von Serbiens Präsident Aleksandar Vucic wurden auch 52 Serben bei der Auseinandersetzung verletzt.
Die versuchte Amtseinführung war nur der letzte Funke. Die neuen Bürgermeister kommen von der albanischen Mehrheitsbevölkerung und sollen im mehrheitlich serbischen Norden Kosovos Dienst tun. Wie ist das möglich? Die serbische Minderheit hat die Lokalwahlen im April boykottiert, auch auf Anordnung aus Belgrad. Die Wahlbeteiligung war fast ausschliesslich albanisch und mit 3,5 Prozent der Bevölkerung in den vier Gemeinden auf einem Rekordtief.
Breaking News? Ausgewählte Leseempfehlungen? Downloaden Sie hier unsere News-App und bleiben Sie mit den Push-Nachrichten stets auf dem Laufenden. Sie haben bereits unsere App? Empfehlen Sie sie gerne an Freunde und Familie weiter.
Die Neuwahl war nötig geworden, weil die vorherigen serbischen Amtsinhaber ebenfalls auf Geheiss aus Belgrad im vergangenen Herbst ihre Posten geräumt hatten. Dies aus Protest, nachdem die Regierung von Albin Kurti auch im Norden des Landes die kosovarischen Autokennzeichen durchsetzen wollte. Dort wird noch immer mit serbischen oder alten Nummernschildern aus der Zeit des ehemaligen Jugoslawien gefahren.
Es geht dabei um Symbole, Macht und Kontrolle. Beide Seiten haben ihre Agenda, doch der Hauptverantwortliche ist Serbiens Präsident Aleksandar Vucic. Der weigert sich auch gut 20 Jahre nach Kriegsende, die Unabhängigkeit Kosovos anzuerkennen, und benutzt die serbische Minderheit insbesondere im Norden der ehemals von Belgrad kontrollierten Provinz, um eine Stabilisierung des jungen Staates zu hintertreiben.
Serbiens geschickte Schaukelpolitik zwischen Brüssel und Moskau
In Kosovo hatten Jugoslawiens Zerfallskriege einst ihren Anfang genommen, als Milosevic Ende der 1980er-Jahre die Autonomie der Region aufgehoben hatte. In Kosovo ging Milosevics Ära Ende der 1990er-Jahre mit Kriegsverbrechen und Massenvertreibungen der albanischen Mehrheitsbevölkerung zu Ende. Aus der Sicht der Staatengemeinschaft hatte Belgrad damals den Anspruch auf die Kontrolle über das mehrheitlich albanische Kosovo verspielt. 2008 hat Kosovo die Unabhängigkeit erklärt, die inzwischen von über 110 Staaten anerkannt wird.
In Pristina regiert seit eineinhalb Jahren Albin Kurti. Zwei sehr gegensätzliche Kontrahenten sitzen sich gegenüber, wenn der EU-Aussenbeauftragte zum Dialog ruft. Vucic war Propagandaminister von Diktator Slobodan Milosevic, als der junge Studentenführer Kurti als politischer Häftling verschleppt wurde und zwei Jahre im Gefängnis sass. Josep Borrell und die amerikanischen Unterhändler scheinen die Vorgeschichte auszublenden.
Auch jetzt werden beide Seiten gleichermassen zur Räson gerufen. Kurti solle die Polizeioperationen im Norden Kosovos einstellen, so Borrell. Klare Forderungen an die Adresse Vucics und der gewalttätigen Randalierer auf der serbischen Seite fehlen.
Die Kurti-Regierung mag ungeschickt agieren und hat es verpasst, mit der serbischen Minderheit eine Gesprächsbasis und Vertrauen aufzubauen. Das ist aber auch schwierig, solange gesprächsbereite Serben in Kosovo von Belgrad als Verräter an den Pranger gestellt und bedroht werden. Der EU-Aussenbeauftragte Borrell will vor allem Stabilität in der Region, und die verspricht sich Brüssel vom serbischen Präsidenten, der serbische Minderheiten in Kosovo und auch in Bosnien-Herzegowina kontrolliert. Aleksandar Vucic betreibt bis anhin eine geschickte Schaukelpolitik zwischen Brüssel und Moskau.
Priorität hat für EU und USA, möglichst einen Keil zwischen Russlands Wladimir Putin und Aleksandar Vucic zu treiben. Zu viel Druck auf Belgrad könnte da kontraproduktiv sein. Bisher hat die Zurückhaltung allerdings nicht die gewünschten Ergebnisse gezeitigt. Im Norden Kosovos sollen auch russische Paramilitärs der Wagner-Gruppe aktiv sein. Vucic hat Serbiens Streitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt. Serben sprayten bei den Konfrontationen auf Nato-Fahrzeuge den Buchstaben Z, Russlands Kampfzeichen für den Krieg gegen die Ukraine.
Fehler gefunden?Jetzt melden.