Spannungen auf dem BalkanKosovo kämpft mit dem Schwebezustand
Alle paar Monate eskalieren die Spannungen zwischen Kosovos Regierung und der serbischen Minderheit im Norden des Landes. Der junge Staat bleibt instabil: Belgrad heizt die Spannungen an, und auch die EU macht keine gute Figur.
Sie nennen die Kleinstadt in Kosovo auch das kleine Berlin. Wobei in Mitrovica keine Mauern zu sehen sind. Der Fluss Ibar trennt die Stadt in einen Nord- und einen Südteil. Im Norden leben mehrheitlich Kosovo-Serben, im Süden die Kosovo-Albaner. Und immer, wenn die Spannungen in der geteilten Stadt hochkochen, scheint die unsichtbare Mauer unüberwindbar. Wie zuletzt zum Jahreswechsel im Streit um Autokennzeichen.
Kosovos Premierminister Albin Kurti wollte über 20 Jahre nach Abzug der Belgrader Besatzungsmacht durchsetzen, dass die serbische Minderheit im Norden endlich auch die Nummernschilder des neuen Staates akzeptiert. Die Reaktion waren Strassenblockaden und der Auszug der serbischen Amtsträger aus den kosovarischen Institutionen. Die Barrikaden aus schweren Lastwagen sind inzwischen abgeräumt, die bewaffneten Serben hinter den Strassensperren abgezogen, italienische Carabinieri halten im Auftrag Europas gelangweilt auf der breiten Brücke die Stellung und füttern die Strassenhunde.
Mitrovica mit seinen Bergwerken gab einst 20’000 Menschen Arbeit. Heute sind wenige Hundert beschäftigt, die Stollen zu entwässern und Abfälle zu verwerten. Die Stadt ist auch ein Symbol für die bescheidenen Erfolge der EU und anderer internationaler Geldgeber, Kosovo zu einem florierenden multiethnischen Staat zu machen. Nur Fussgänger dürfen über die breite Brücke im Zentrum, Autofahrer schon seit über 20 Jahren nicht mehr. Ein eingefrorener Konflikt im Kleinformat.
Von der Brücke führt der Weg in einer Fussgängerzone hinauf zum Denkmal von König Lazar, einst auf dem Amselfeld im Kampf gegen die Türken gefallen. Auf beiden Seiten serbische Fahnen, die Flagge eines anderen Staates. An den Hausfassaden Porträts von serbischen Kriegshelden, bärtigen orthodoxen Priestern und ein grossflächiger Graffito mit Solidaritätserklärungen Richtung Russland. Vorbei an den Büros der Partei Srpska Lista, deren Vertreter mit Journalisten nicht reden und im Ruf stehen, als verlängerter Arm Belgrads die serbische Minderheit in Nordmitrovica und in den serbischen Enklaven im Süden zu steuern.
Brückenbauen ist der Job von Aleksandar Rapajic, er arbeitet bei einer lokalen Organisation, die im Auftrag internationaler Geldgeber den Dialog zwischen den ethnischen Gruppen fördern soll. Nebenbei führt er einen Spielzeug- und Bücherladen in der Fussgängerzone. Er empfängt im Büro des Advocacy Center for Democratic Culture, seiner NGO. Der korpulente Mann mit Brille ist einst nach Abzug der serbischen Besatzer aus Pristina zuerst zusammen mit seiner Mutter nach Belgrad geflüchtet und danach wieder zurück nach Mitrovica gezogen, um näher an seiner Heimat zu sein. «Zwischen Serben und Albanern gibt es heute keine Probleme mehr», sagt er. Es ist ein Satz, den man überall hören kann.
Rechte nur auf dem Papier
Das Problem bestehe zwischen den Kosovo-Serben und den Institutionen des neuen Staates, den die meisten in Nordmitrovica nicht anerkennen. Die Unterdrücker von einst sehen sich heute als Opfer. Aleksandar Rapajic klagt über Diskriminierung. Bücher für seinen Laden kann er offiziell nicht mehr aus Serbien importieren, seit Pristina die Einfuhr gestoppt hat. Dies als Retorsionsmassnahme, weil Belgrad Schulbücher aus Kosovo für die albanische Minderheit in Südserbien untersagt hat.
So ist die serbische Minderheit Spielball zwischen Belgrad und Pristina. Im Justizwesen fehlten die Dolmetscher, und seit Pristina Diplome der Universität in Mitrovica nicht mehr anerkennt, hätten es serbische Bewerber schwierig mit Bewerbungen für die zehn Prozent Jobs in der Verwaltung, die den Minderheiten eigentlich zustehen. «Auf dem Papier sind die Gesetze zu den Minderheitenrechten perfekt», sagt Aleksandar Rapajic. Doch im Alltag gebe es kaum Fortschritte. Der Streit um die Autokennzeichen sei ein Muster, wie in Mitrovica Konflikte immer wieder eskalierten. Das Ergebnis ist jedenfalls ein grosser Rückschritt, denn so schnell wollen die Kosovo-Serben nicht in ihre Jobs bei der Polizei, an den Gerichten oder in der Gemeinde zurückkehren.
Serbien tut nichts dafür, dass sich da was ändert, im Gegenteil. Belgrad finanziert nach wie vor Schulen und Spitäler, versucht, eine Art Parallelgesellschaft zu zementieren. Serbiens Präsident Aleksandar Vucic drängt die Minderheit, sich nicht zu integrieren. Zuletzt drohte Vucic sogar mit dem Einmarsch von serbischen Truppen. Autos von Serben werden als Mahnung abgefackelt, wenn sie die Kennzeichen aus Pristina montieren. Moderate Politiker der Serben wurden von den eigenen Leuten auch schon ermordet. Einige sehen Belgrad als Schutzmacht, andere fühlen sich instrumentalisiert. Während man sich in Pristina in den Zweifeln an der Loyalität der Minderheit bestätigt sieht. Es ist ein Teufelskreis, über den auch in Nordmitrovica geredet wird.
Direkt auf der südlichen Seite des Ibar-Flusses treffen wir Aferdita Sylaj Shehu im Café Ura, albanisch für die Brücke. Sie hat mit ihrer Hilfsorganisation ein ähnliches Ziel wie Aleksandar Rapajic auf der anderen Seite des Ibar-Flusses. Junge Leute, die sie für Musikworkshops in die Stadt bringt, überqueren oft zum ersten Mal die Brücke in der geteilten Stadt. «Die Mauer besteht in den Köpfen der Menschen», sagt Aferdita Sylaj. Sie und ihre Mitarbeiter bei Community Building Mitrovica versuchen an die Tradition der Stadt mit ihren Jazz- und Popbands anzuknüpfen, in denen im alten Jugoslawien Serben und Albaner zusammen auftraten. Ein Musikfestival auf der Brücke war zuletzt ein grosser Erfolg. Doch jetzt, nach der Eskalation um die Autokennzeichen, ziehen sich beide Seiten wieder in den Schutz ihrer Volksgruppe zurück, sagt Sylaj.
Mitrovica ist die offene Wunde im Land mit 1,8 Millionen Kosovo-Albanern und noch rund 120’000 Kosovo-Serben. Wie viele es genau sind, weiss niemand. Vor allem die Enklaven im Süden, wo die Mehrheit der Serben lebt, leeren sich langsam. Von Mitrovica in die Hauptstadt Pristina sind es nur 40 Kilometer. Doch eine schmale Strasse schlängelt sich eine endlose Baustelle entlang, die einmal eine Autobahn werden soll. Nach jedem Regierungswechsel wird der Bau gestoppt, die Aufträge neu vergeben. Niemand weiss genau, wie viel Geld dabei in den letzten zehn Jahren versickert ist.
Ein anderes Mahnmal steht in Obiliq kurz vor Pristina, die beiden Kraftwerke Kosova A und B. Über dem Tal hängt ein gelblicher, beissender Nebel, der bei ungünstiger Wetterlage Hustenreiz auslösen kann. Die Kraftwerke werden mit der Braunkohle betrieben, die es in der Gegend reichlich gibt. Eigentlich sollten die Filter bei beiden Werken schon längst eingebaut sein. Doch es gibt immer neue Gründe für Verzögerungen.
«Verräter, Kollaborateur, Feind»
Am Stadtrand von Pristina hat Nenad Rasic neben einer Bauruine und einer Polizeistation seinen Amtssitz. Der 49-Jährige ist seit Dezember neuer Minister für Minderheiten und Rückkehrer. Nach dem Auszug der serbischen Amtsträger ist er dem Ruf von Regierungschef Albin Kurti gefolgt und hat eine Lücke gefüllt. «Der einzige Weg, etwas an der Situation der Serben im Kosovo zu ändern, ist es, in den Institutionen mitzumachen», sagt Nenad Rasic in seinem Büro mit Blick über rauchende Kamine. In Belgrad schimpfe man ihn dafür einen Verräter, Kollaborateur und Feind. Sein Sohn wurde in der Schule von Gracanica, einer serbischen Enklave südlich von Pristina, spitalreif geschlagen. Nenad Rasic bezahlt einen hohen Preis dafür, dass er mitmacht im jungen, mehrheitlich albanischen Staat. Er will Albin Kurti beim Wort nehmen und testen, ob er es mit dem Versprechen ernst meint, dass die serbische Minderheit eine Zukunft habe in Kosovo.
Das Bild ist nicht komplett ohne die «Internationalen», 15 Jahre nach der Unabhängigkeit immer noch der wichtigste Player in Pristina. Die EU hat gegen zwei Milliarden Euro an sogenannten Vorbeitrittshilfen ausbezahlt oder versprochen. Kosovo ist kein Protektorat, auch wenn es manchmal so ausschaut. Die US-Botschaft ist imposant und mit hohen Mauern gesichert. Das Wort des amerikanischen Botschafters und des Sondergesandten der US-Regierung hat immer noch am meisten Gewicht. Die Kosovo-Mission der UNO (Unmik) ist noch da, obwohl Brüssel mit der Rechtsstaatsmission Eulex längst übernommen hat. Russland und China blockieren den Abzug von Unmik, um weiter vor Ort mitmischen zu können.
Glaubwürdigkeitsproblem der EU
Die EU kämpft mit einem Glaubwürdigkeitsproblem, weil der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell und sein Sondergesandter Miroslav Lajcak beide aus Ländern kommen, die Kosovo bisher gleich wie Serbien nicht anerkennen. Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) unterhält eine ihrer grössten Missionen in Pristina, ist aber wegen des Konflikts mit Moskau ohne klare Aufgabe. Hinzu kommt die Nato-Truppe KFOR, die als Rückversicherung mit 4000 Soldaten präsent ist, darunter auch knapp 200 aus der Schweiz.
Im Norden Mitrovicas seien Mitglieder der russischen Wagner-Truppe gesichtet worden, einer Privatarmee des Kreml, sagen Nachrichtenleute. Ebenso die «Nachtwölfe», eine russische Motorradgang. Die Lage ist ernster als auch schon. Krisensichere Jobs gibt es ebenfalls bei den zahlreichen NGOs wie jener von Aleksandar Rapajic und Aferdita Sylaj Shehu in Mitrovica, die für internationale Geldgeber Programme implementieren. Wer dort nicht unterkommt, hat oft keine grosse Wahl. Die Ziele der jungen Serben und Albaner in Kosovo unterscheiden sich kaum. Deutschland etwa stellt auf dem Konsulat in Pristina weltweit am meisten Arbeitsvisa aus, zuletzt 19’000 in einem Jahr.
Der Amtssitz von Premierminister Albin Kurti in Pristina liegt am Ende des Boulevards Mutter Teresa. Man geht an Strassencafés und dem haushohen Porträt von Ibrahim Rugova vorbei, dem Albanerführer vor der Unabhängigkeit. Am Parteisitz der früheren Freiheitskämpfer prangen grosse Porträts von Hashim Thaci und Kadri Veseli an der Fassade, frühere Spitzenpolitiker und derzeit in Den Haag in Untersuchungshaft, wegen Kriegsverbrechen angeklagt. In Pristina scheint den Kriegsherren allerdings niemand wirklich nachzutrauern.
Albin Kurti empfängt im Hochhaus am Ende des Boulevards. Er unterstreicht die Erfolge im Kampf gegen die Korruption aus der Ära von Thaci und Co. Selbst seine Kritiker bescheinigen ihm, anders als seine Vorgänger integer und unbestechlich zu sein. Und er ist einer, der den Europäern und selbst den Amerikanern Paroli bieten kann, wenn sie ihn wieder einmal zu Konzessionen gegenüber Belgrad drängen. Das macht ihn bei den «Internationalen» nicht unbedingt beliebt.
Doch kann Kosovo in diesem Schwebezustand überhaupt prosperieren, solange Serbien den Nachbarn nicht anerkennt? Und weshalb steht Kosovo trotz der Milliardenhilfen heute nicht besser da? «In der Vergangenheit sind die Gelder oft in den falschen Taschen gelandet», sagt Albin Kurti. Die «internationalen Bürokratie» habe sich von den kosovarischen Kriegsherren kurzfristige «Stabilität» versprochen. Auch unzählige ausländische Konsulenten hätten profitiert. Doch das habe sich als Irrweg erwiesen. Jetzt, mit seiner demokratischen Regierung, sei das Geld aber gut angelegt. Albin Kurti sieht den Kosovo am Anfang eines Jahrzehnts des Wachstums.
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