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Neuer Therapieansatz bei Alkoholproblemen
Kontrolliertes Trinken statt Abstinenz

Wann ist genug? Beim kontrollierten Trinken geht es darum, die Grenzen zu kennen.
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Zuerst einen Apéro mit einigen Stangen Bier. Zum Essen mehrere Gläser Wein und danach den Abend mit ein paar Gin Tonics ausklingen lassen. 

Immer wieder mal passierte es Roger Müller (Name geändert), dass er in einer geselligen Runde viel trank. Hin und wieder leerte er auch zu Hause ganz für sich allein eine Flasche Wein, um sich zu entspannen. «Das war manchmal ganz lustig», erzählt der Winterthurer. «Doch oft war ich betrunken.»

Körperliche Beschwerden habe er zwar bis anhin keine, doch beim Sporttraining habe er kaum Fortschritte gemacht, berichtet der 55-Jährige, der joggt und Mountainbike fährt. Zudem stellte er fest, dass seine Frau und seine Kinder unter seinem Trinkverhalten leiden. «Das gab mir zu denken.»

Bereits letztes Jahr hatte er deshalb einen trockenen Januar eingelegt. Das habe gut funktioniert, sagt Müller. Doch nach dieser Pause kam es wieder zu regelmässigen Abstürzen.

Online senkt die Hemmschwelle

Auf Druck seiner Familie entschloss er sich, Hilfe zu suchen. Er meldete sich bei der Integrierten Suchthilfe Winterthur, wo ihn eine Ärztin auf den Onlinekurs «Weniger trinken – Ihr Ziel?» aufmerksam machte. Die digitale Durchführung ist während der Pandemie entwickelt worden und schweizweit einzigartig.

Brigitte Hunkeler, lic. phil., ist ausgebildete Fachpsychologin für Psychotherapie FSP.

«Wir haben erkannt, dass dieses Setting viele Vorteile hat», erklärt Kursleiterin und Psychotherapeutin Brigitte Hunkeler. «Viele Teilnehmende haben Berührungsängste und Schamgefühle. Wenn man vom geschützten Daheim aus mitmachen kann, ist die Hemmschwelle tiefer, und man muss sich weniger preisgeben.» Es ist sogar möglich, sich mit einem Pseudonym anzumelden. Dass man die Kamera einschaltet, ist jedoch Bedingung.

Totale Abstinenz nicht immer nötig

Auch der Ansatz, eine Reduktion der Trinkmenge anzustreben, ist noch relativ jung. Bis vor kurzem galt die Lehrmeinung, dass alkoholkranke und suchtgefährdete Menschen nicht moderat trinken können und deshalb nur totale Abstinenz infrage komme. Doch neuere Studien weisen darauf hin, dass reduziertes Trinken bei einigen Menschen sehr wohl funktioniert. «Man weiss nicht im Voraus, wem es gelingt und wem nicht», sagt Hunkeler.

Besser sei die Ausgangslage sicher, wenn noch keine körperliche Abhängigkeit bestehe. Diese äussert sich durch Entzugserscheinungen wie Zittern, Schwitzen und erhöhten Puls. «Je früher die Intervention, desto grösser die Erfolgschancen.»

«Auch Schadenminderung ist ein wichtiges Ziel in der Suchtbehandlung.»

Brigitte Hunkeler, Psychotherapeutin

Ein weiterer Vorteil des Ansatzes ist, dass man auch Personen gewinnen kann, die nicht oder noch nicht bereit sind, ganz auf Alkohol zu verzichten. «Auch Schadenminderung ist ein wichtiges Ziel in der Suchtbehandlung», weiss die Psychotherapeutin. Das Abstinenz-Dogma habe viele abgeschreckt, überhaupt einen Versuch zu wagen.

Wenige trinken zu viel

In den letzten zwanzig Jahren ist der Alkoholkonsum in der Schweiz stetig zurückgegangen. Doch die Trinkmenge ist sehr ungleich verteilt: Die Hälfte des Alkohols wird von nur 11 Prozent der Bevölkerung konsumiert. Gemäss Umfragen hat etwa jede 20. Person in der Schweiz einen risikoreichen Umgang mit Alkohol oder ist sogar schwer abhängig. Ein positiver Trend ist jedoch, dass der gesellschaftliche Druck zum Trinken allmählich abnimmt. Dazu trägt unter anderem die tiefere Promillegrenze im Strassenverkehr bei, aber auch das steigende Gesundheitsbewusstsein und die «Sobriety»-Bewegung (engl. sober bedeutet nüchtern), die auch hierzulande langsam Fuss fasst.

Alkohol greift Organe an

An den sechs Abenden des Onlinekurses erhalten die Teilnehmenden jeweils zuerst einen Input zum Thema Alkohol. Zum Beispiel erfahren sie, wie der Stoff im Körper wirkt und welche Folgen übermässiges Trinken über die Jahre haben kann. Alkohol kann nämlich so ziemlich alle Organe angreifen.

Im Magen zum Beispiel wird mehr Säure gebildet. Ist dies häufig der Fall, kann sich die Magenschleimhaut entzünden. Auch das Herz reagiert stark auf Alkohol: Es kann zu Rhythmusstörungen oder Herzrasen kommen. Bei ständigem grösserem Konsum wird auch die Leber stark beansprucht. Sie ist zuständig für die Entgiftung des Körpers und den Alkoholabbau. Das Einlagern von Alkohol in Form von Fett kann zu einer Fettleber führen und später sogar zu einer Leberzirrhose, bei der das Organ seine Funktion verliert.

Das Nervensystem – dazu gehört auch das Gehirn – wird ebenfalls vom Alkohol angegriffen, und das Risiko für alle Arten von Krebs steigt schon bei kleinen Mengen leicht an.

Tagebuch führen

Im Onlinekurs beschäftigen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zudem mit ihrem persönlichen Trinkverhalten. Ein wichtiges Instrument dafür ist das Trinktagebuch, in dem sie festhalten, in welchen Situationen sie welche und wie viele Getränke konsumieren. Sie setzen sich individuelle Ziele und eignen sich Strategien an, um für heikle Momente gewappnet zu sein. Die Themen werden danach in Kleingruppen besprochen. «Für die Teilnehmenden ist es hilfreich, zu sehen, dass sie mit ihren Problemen nicht allein sind», erklärt Psychologin Brigitte Hunkeler.

Darüber sprechen

Auch Roger Müller hat den Austausch mit anderen suchtgefährdeten Menschen als sehr bereichernd empfunden. «Regelmässig mit dem Thema konfrontiert zu werden, hat mir beim Durchhalten geholfen.» Er hat sich zum Ziel gesetzt, drei bis vier Tage pro Woche abstinent zu leben sowie höchstens zwei Gläser Wein pro Abend zu trinken, diese jedoch langsam und genussvoll. Darüber hat er seine Bekannten informiert und sie gebeten, ihm nicht ungefragt nachzuschenken.

Auch seine Familie weiss von seinen guten Absichten. «Ich will sie nicht enttäuschen. Das stärkt meine Motivation.» Zusammen mit seiner Frau, die nur sehr wenig Alkohol trinkt, hat er sich durch das wachsende Sortiment alkoholfreier Biere hindurchprobiert und nun eines gefunden, das er geschmacklich interessant findet. Dieses kommt jeweils zum Apéro auf den Tisch.

Müller hat den Kurs Ende letztes Jahr absolviert. Die Festtage waren eine erste Bewährungsprobe. «Es ist gut gegangen bis auf einen Absturz», blickt er zurück. Und auch dieser sei nicht so extrem gewesen wie frühere Rückfälle. Im Januar hat er wieder einen Monat lang Alkoholpause eingelegt und sich fest vorgenommen, danach nicht ins alte Muster zurückzufallen.

Bisher hats geklappt. «Ich hoffe sehr, dass das so bleibt. Sonst muss ich mir überlegen, doch ganz aufzuhören.»