«König Lear», neu gedacht am Zürcher PfauenKönig Lear, seine Töchter und der Kampf gegen das System
Thomas Melle hat den Klassiker überschrieben, und Anne Lenk hat ihn kraftvoll in Szene gesetzt: drei Stunden, die fast wie im Flug vergehen.
Major Tom fliegt auf einem Velo durch den kunstbenebelten, flammend roten Himmel: Die Schwaden könnten auch in Toms Kopf wirbeln; oder in Lears. Jedenfalls singt der Typ im Astronautenanzug dazu David Bowies unsterbliche Hymne der Verlorenheit «Here am I floating ’round my tin can, far above the moon, planet earth is blue and there’s nothing I can do», und uns stockt der Atem. Wie heutig und wie ewig ist William Shakespeares poor Tom hier geraten! Wie zerbrechlich und wie unkaputtbar zugleich begegnet Johann Jürgens’ Edelmann in Obdachlosen-Maske da seinem verstörten König!
Die 1978 geborene Regisseurin Anne Lenk hat im Zürcher Pfauen eine Inszenierung von «König Lear» besorgt, die von der fetzigen Übersetzung und Überschreibung des Dramas durch Thomas Melle ausgeht. Dabei gelingt es Lenk, das Stück von 1606 mit den Orientierungslosigkeiten von 2024 poetisch und verspielt zu verschränken: Aus der Tragödie wird beinahe so etwas wie ein shakespearesches «Problem Play», das in der Bitternis etliche Lacher in petto hält. Die berühmten Zitate bekommen einen neuen Platz und passen trotzdem: Dieser «Lear» kommt überdeutlich daher und dennoch geschmeidig.
Das graue, grosse Reiterstandbild, das Bühnenbildnerin Judith Oswald für die ersten Szenen auf die Bühne gewuchtet hat, erzählt von Patriarchat, von buchstäblich starren Hierarchien, von lebensfeindlicher Farblosigkeit. Auch die drei Königstöchter, die sich darunter versammelt haben – Goneril (Nancy Mensah-Offei), Regan (Lea Salfeld) und Cordelia (Sasha Melroch) –, tragen Grau. Nur die treue Hofdame Kent (Lena Schwarz) tritt im rosa Hostessen-Outfit auf: als dienstbare Frau, die – raffinierte Wandlung der virtuosen Lena Schwarz – später als Hofnarr an der Seite des Königs bleiben wird, während dieser in Armut und Verwirrung versinkt; bei Shakespeare sind Kent und der Narr zwei Männer.
Aber schon am Anfang wird eine ungewohnte Solidarität unter den Schwestern ahnbar; sie ist im gesamten dreistündigen Abend die gar nicht mal so heimliche Hauptfigur, schillernd, vieldeutig. Ist der weibliche Mensch wirklich ein besserer? Und rechtfertigt das grosse Ziel einer neuen, humaneren, gerechteren Gesellschaft die mörderischen Mittel der alten Welt der Machos und Boomer? Diese (post)feministischen Fragen stellen Melles Text und auch Lenks Umsetzung offensiv – und ungehemmt ostentativ.
Darum reimen Goneril und Regan bereits in der allerersten Szene ihr Motto mitten in die Rivalität hinein. Weil «das System» ihnen die Grundrechte vorenthalte, müssten sie listig sein. «Einmal müssen wir’s machen wie sie. Der Schnitt wird glücken, aber frag mich nicht, wie», rechtfertigt Salfelds kraftvolle Regan ihre kommenden Untaten. «Auch ich find’ es traurig, auch ich leide mit – doch kein Paradies ohne Höllenritt», sekundiert Mensah-Offeis wendige Goneril. Nur Cordelia verweigert sich dieser Logik.
Der alternde König – grossartig in seinem blinden Entitlement: Rainer Bock – will die Macht zwar abgeben, verlängert die Top-down-Strukturen aber dadurch, dass er eine Liebesprobe verlangt. Die Tochter mit der tollsten Loyalitätserklärung soll am reichsten belohnt werden. Dass so die machtgierigsten Speichelleckerinnen zum Zug kommen, weiss um ihn herum jeder, er selbst jedoch wird es auf die harte Tour lernen. Nachdem er den Schönrednerinnen Regan und Goneril die Macht überschrieben hat, wird sein Königstitel wertlos.
Bald befindet er sich ohne Instagram-Follower und ohne Fans aus der Boomer-Generation (Michael Endes graue Männer mit Pilotenbrille, Aktenkoffer, Trippelschritt) irgendwo im digitalen und physischen Nirgendwo. Genauso wie Gräfin Gloucester, die Mutter sowohl des Velofahrers Tom als auch der Schurkengestalt Edmund: Karin Pfammatters Gloucester entwickelt sich im Laufe der Aufführung von der geradezu komödiantisch verblendeten zur sehr berührenden Mutterfigur.
Die Lear-Töchter Regan und Goneril dagegen zelebrieren ihr Empowerment mit pinken Outfits, die aussehen wie eine Rüstung samt Vulva-Puffärmeln: Sie könnten Amazonen aus der Feder der feministischen Comic-Künstlerin Liv Strömquist sein und leben in einem Palast, der als aufgerissener, alles verschlingender Frauenmund gestaltet ist – wie sonst?
Dass sie selbst den hochintriganten Halbbruder Toms – Bösewicht Edmund wird von Steven Sowah richtig gut bösewichtig gegeben – austricksen, ist ein Dreh Melles. Er schreibt den Frauenfiguren viel mehr Wirkungsmacht zu, als sie im Original hatten. Am Ende offeriert Melle zwei Lesarten: einmal den Triumph der drei Schwestern. Sie haben den wilden Marsch durchs System überlebt und stehen, mit blutigen Händen – abgesehen von der unschuldigen Cordelia –, am Beginn einer neuen Zeit. «Zu diesem Zweck mordeten wir die mächtigen Männer weg», intonieren Goneril und Regan.
Doch vielleicht war alles nur geträumt, und darum zeigt das Schlussbild den Übervater im bedrückenden Grau und die Frauen verkleinert, quasi in eine Puppenstube, einen geschrumpften Guckkasten, gequetscht und in Mädchenkleidchen gesteckt; der Verteilungskampf startet von neuem.
Kurz: Subtil ist dieser «Lear» nicht. Seine Fragen werden quasi herausgeschrien und verhallen im Parkett, weil niemand darauf eine Antwort hat. Wie erstreitet man sich einen Platz an der Sonne, ohne ihn anderen wegzunehmen? Diese Diskussion wird auch an «woken» Theatern geführt. Aber wie spielfreudig und sprachlustig sie hier stattfindet, wie bildfrech und musikklug: Das ist wie ein fantastischer Flug auf dem Velo.
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