Interview mit Thomas Stocker«Wenn die Menschheit will, kann sie. Wenn die Schweiz will, kann sie»
Es gebe immer noch zu viele Businessmodelle, die auf der Ausbeutung unseres Planeten beruhten, sagt der abtretende Klimaforscher Thomas Stocker.
Die Karriere des Klimawissenschafters Thomas Stocker verlief fast so steil wie die CO2-Kurve, die im Eingang des Physikalischen Instituts der Universität Bern an der Wand hängt. Stocker war Co-Leiter der Arbeitsgruppe des Weltklimarates, welche die Grundlagen fürs Pariser Klima-Abkommen von 2015 erarbeitet hatte.
Entsprechend angriffig zeigt er sich, wenn es um die Gründe für das wahrscheinliche Nichterreichen der Pariser Klimaziele geht. Wer Stocker zuhört, mag nicht glauben, dass der Mann Ende Monat in Pension geht:
Herr Stocker, Sie haben die Klimaforschung geprägt, konnten den Klimawandel aber nicht stoppen. Mit welchen Gefühlen gehen Sie in Pension?
Wir haben mit dem Berner Team während über 30 Jahren Klimafakten geschaffen. Das erfüllt mich mit Dankbarkeit. Unsere Eisbohrkernforschung zeigt, dass die heutige CO2-Konzentration schneller steigt denn je und 35 Prozent höher ist als je zuvor in den letzten 800’000 Jahren. Aber ich bin auch konsterniert, dass Behauptungen und Unwahrheiten zunehmend wissenschaftliche Fakten übertrumpfen.
Das Wachstum der CO2-Konzentration wird oft mit einem Hockeyschläger verglichen, so benannt nach der steigenden Kurve. Geht es so weiter?
Es ist leider keine Änderung der Tendenz erkennbar. Jetzt müsste man die Klimaziele von Paris umsetzen. Und da ist nicht viel passiert. Die CO2-Konzentration ist nur einer von vielen Hockeyschlägern. Es gibt auch Hockeyschläger bei den CO2-Emissionen, bei der Methan-Konzentration, bei der Temperatur und bei den Schäden durch Extremereignisse.
In der Covid-Zeit wurden wissenschaftliche Erkenntnisse umgehend umgesetzt. Warum nicht beim Klimaschutz?
Weil die Covid-Krise alle in direkter Weise betraf. Es sind Menschen gestorben.
Die Klimakrise betrifft die Menschen auch direkt.
Ich unterscheide zwischen Katastrophe und Krise. In einer Katastrophe muss man rasch und entschlossen handeln. Man weiss aber auch, dass das Problem irgendwann vorbei ist. Beim Klimawandel ist es anders. Es ist eine Krise, die permanentes Handeln erfordert.
Aber beim Ozonloch fand man auch rasch eine Lösung?
Auch beim Ozonproblem ging es um die Gesundheit. Man musste ein erhöhtes Risiko von Hautkrebs verhindern. Zudem gab es zeitnah einen Ersatzstoff für die schädlichen FCKW.
«Die Schweiz hat die stärkste Fahrzeugflotte in Europa.»
Beim Klimawandel geht es aber auch um die Gesundheit, wie der Europäische Menschenrechtsgerichtshof im Fall der Klimasenioren befunden hat.
Ausser dem Ständerat bestreitet das ja auch niemand. Aber ernsthaft: Es gibt seit ein paar Jahren eine Forschungsstelle zum Thema Klima und Gesundheit an der medizinischen Fakultät der Uni Bern. Das Oeschger-Zentrum für Klimaforschung und andere Institutionen haben ein Grundlagenpapier zuhanden des Strassburger Gerichts erstellt.
Hat Sie das Urteil überrascht?
In dieser Eindeutigkeit hat mich der Entscheid überrascht und sehr gefreut. Nehmen wir das als Ansporn, in der Schweiz mehr zu machen als bisher.
Der Ständerat meint aber, die Schweiz tue bereits genug.
Den Ausstoss von Treibhausgasen im Landesinneren hat die Schweiz reduziert. Relevant sind aber alle Emissionen, die wir verursachen. Sie ergeben sich aus unserem Konsum, dem Lebensstil und dem damit verbundenen grossen ökologischen Fussabdruck. Der grösste Teil unserer Konsumgüter wird im Ausland produziert, wo dann die Emissionen diesen Ländern zugerechnet werden. Die Schweiz hat die stärkste Fahrzeugflotte in Europa. Mehr als die Hälfte der neuen Autos sind überdimensionierte SUV. Das summiert sich zu einer Gesamtemission, die in keiner Weise kompatibel ist mit den Pariser Klimazielen für die Schweiz.
«Mit jedem Jahr, in dem zu wenig passiert, ist das Ziel schwerer zu erreichen.»
Sie zweifeln daran, dass die Schweiz das Zweigradziel bis 2050 erreicht?
Mit jedem Jahr, in dem zu wenig passiert, ist das Ziel schwerer zu erreichen. Wenn man auf eine Mauer zufährt, kann man auch nicht sagen, man bremse später. Irgendwann ist es zu spät. Das 1,5-Grad-Ziel erreichen wir nicht mehr. Das Zweigradziel ist auch unrealistisch, wenn wir nicht mehr tun.
Sie haben 2012 in einem Bericht vor Erwärmung und Extremwetter gewarnt. Letztes Jahr war das wärmste Jahr seit Messbeginn. Geht es rascher, als Sie gedacht haben?
Nein. Die Jahresmitteltemperatur steigt in der Schweiz zwar zweimal so schnell wie im globalen Mittel. Aber das ist ein langsamer Prozess, und es gibt immer mal wieder Jahre, in denen es nicht so heiss ist wie im Vorjahr. Bei den Extremereignissen hingegen spielt jedes Zehntelgrad an Erwärmung eine Rolle.
«Die immer schnelleren Konsumzyklen müssen gebrochen werden.»
An der letzten Weltklimakonferenz in Dubai wollte man einen Verzicht auf die Fossilen erreichen. Es blieb bei einem Aufruf auf Verzicht.
Bereits 2021 in Glasgow wurde bezüglich der Fossilen «phase out» durch «phase down» ersetzt, was eine gezielte Abschwächung ist. Und seither gab es ausser Beteuerungen und grossen Worten wenig bis nichts. Aber auch in der Schweiz ist Ähnliches geschehen. Vor der Abstimmung über das CO2-Gesetz 2021 waren starke Kräfte am Werk, die viel Geld in die Bewahrung des Status quo beim Konsum fossiler Energieträger gesteckt haben.
Diese Kräfte warnten davon, dass das Benzin teurer werde. Das hat gewirkt.
Es war eine unsägliche Propaganda mit Lügen und Unwahrheiten. Und die Stimmbeteiligung war relativ tief. Und dies bei einer zentralen Frage, die die Zukunft unserer Kinder und Enkel betrifft.
Die CO2-Abgabe ist damit in der Schweiz aber wohl für eine Weile gestorben.
Führende Ökonomen sagen, dass eine CO2-Abgabe die grösste Lenkungswirkung hätte. Eine CO2-Abgabe könnte man in den Ausbau des ÖV oder in die Erneuerbaren stecken. Wenn jemand eine Ölheizung durch eine Wärmepumpe ersetzt, kriegt er 10’000 Franken. Mit einer CO2-Abgabe könnte er auch 30’000 erhalten. Der Umbau der Heizung schenkt viel ein. Durch den Einbau einer Erdsonde konnte ich meinen ökologischen Fussabdruck um 80 Prozent reduzieren. Denkbar wäre auch eine jährliche Rückerstattung der CO2-Abgabe. Das hätte eine Signalwirkung: die mit grossem ökologischem Fussabdruck verlieren, die mit kleinem gewinnen.
Es gibt eben ein Spannungsfeld zwischen Klimaschutz und Wirtschaftswachstum. Brauchen wir ein anderes Wachstum oder keines?
Es ist doch offensichtlich: Auf einem endlichen Planeten ist unendliches Wachstum unmöglich. In einigen Sektoren brauchen wir Wachstum, in anderen müssen wir massiv runterfahren. Die immer schnelleren Konsumzyklen müssen gebrochen werden. Leasing sollte eingeschränkt werden, denn das ist Konsum auf Vorschuss.
«Auch ein KMU muss nicht wachsen, wenn es ein gutes Produkt hat und dieses pflegt.»
Es ist dem Kapitalismus eben systemimmanent, alle Waren möglichst rasch zu erneuern.
Da muss ein Umdenken kommen. Erwachsene Menschen werden auch nicht jedes Jahr grösser. Die Natur hat überall Limiten, und es funktioniert genau deswegen. Auch ein KMU muss nicht wachsen, wenn es ein gutes Produkt hat und dieses pflegt.
Wenn wir netto null Emissionen erreicht haben, müssen wir bereits ausgestossenes CO₂ der Atmosphäre entziehen. Wie soll das gehen?
Ab 2050 sind gemäss den Szenarien des Weltklimarats gigantische Mengen an Negativemissionen nötig. Beim sogenannten Geoingeneering, der Beeinflussung der Atmosphäre, gibt es verschiedene Vorschläge: Einer ist die globale Abkühlung durch Ausbringen von Schwefel-Aerosolen in die Luft. Die Troposphäre kühlt sich dadurch ab wie bei einem Vulkanausbruch, jedoch permanent.
Sie haben sich für ein Moratorium solcher Versuche ausgesprochen. Warum?
Es wäre ein weiteres globales Experiment mit äusserst ungewissem Ausgang und massiven globalen Risiken. Wir haben globale Experimente nicht im Griff, wie die CO2-Emissionen zeigen. Nebst der beabsichtigten Abkühlung der Troposphäre würde sich die Stratosphäre in einer Höhe über zehn Kilometern erwärmen. Die Stratosphäre ist ein globales Chemielabor. Eine permanente Veränderung der Temperatur würde die chemischen Prozesse stören. Das ist noch gar nicht richtig erforscht. Bedauerlicherweise wird die Ausbringung von Schwefel-Aerosolen langsam salonfähig. Es werden bereits Patente angemeldet.
Damit hat man der Atmosphäre aber noch kein CO₂ entzogen. Wie kann man das tun?
In Island wird CO₂ der Atmosphäre entnommen und verklappt. Das braucht viel Wärmeenergie, die dort als Geothermie gratis vorhanden ist. Das CO₂ wird verflüssigt und 400 Meter in den Boden gepresst, wo es mit dem basalthaltigen Gestein mineralisiert. Es ist dann in Kristallform und so für immer gebunden. Aber Island ist nicht überall.
Was wäre das ideale Szenario um 2050?
Netto null in den Industrieländern. Und in den Schwellenländern ein Sprung übers fossile Zeitalter direkt in die neuen Technologien. Wenn die reichen Länder die Kreislaufwirtschaft mit Erneuerbaren nicht vorleben, wird das auch nicht kopiert.
Ist die Kreislaufwirtschaft denn mit dem Kapitalismus kompatibel?
Die Kreislaufwirtschaft bedeutet keinen ökonomischen Rückschritt. Die Rohstoffe von Handys zum Beispiel müssen verwertet werden. Es bräuchte industrielle Prozesse, um diese zu extrahieren. Diese werden entwickelt, sobald dem Abfall ein fairer Wert zugewiesen wird. Das ist die Aufgabe der Politik.
Einige denken, mit dem Abflauen des Golfstroms werde es in Europa eh kälter. Das helfe auch gegen die Erwärmung. Was halten Sie davon?
Der Golfstrom wird ja nur wegen der Klimaerwärmung schwächer. Wenn er schwächer wird, verändern sich auch die Oberflächentemperaturen, und das hat wiederum Auswirkungen auf den Austausch mit dem Tiefenwasser, die Nährstoffe im Wasser, die Fauna und damit die Fischerei. Einer meiner ersten Doktoranden hat 1997 untersucht, wie sich der Golfstrom bei exponentiellem Anstieg der CO2-Kurve verändert. Dabei stellte er Limiten der Stabilität fest. Steigt der CO2-Gehalt rasch oder über eine Schwelle, nimmt der Golfstrom ab und versiegt schliesslich. Das ist ein sogenannter Kipppunkt. Weitere Kipppunkte könnte es bei der raschen Abschmelzung des Grönland-Eises oder dem Abbruch des Thwaites-Gletschers in der Antarktis geben. Auch ein Austrocknen des Amazonas könnte das Klima irreversibel verändern.
Braucht es einen Kipppunkt, bis die Menschheit handelt?
Das ist eine zynische Frage. Das Pandemie-Management hat gezeigt: Wenn die Menschheit will, kann sie. Wenn die Schweiz will, kann sie. Es gibt aber immer noch zu viele bremsende Kräfte, deren Businessmodell in der Ausbeutung unseres Planeten besteht.
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