Reaktion auf Klima-UrteilKritisieren statt ignorieren – Mitglieder des Ständerats suchen einen Kompromiss
Das Urteil aus Strassburg zu den Klimaseniorinnen hat im Parlament Protest ausgelöst. Doch die geplante Erklärung geht manchen zu weit.
Das Urteil sorgt seit Wochen für Diskussionen: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Schweiz gerügt, weil sie nicht genug gegen den Klimawandel tue. Während die Grünen das Urteil als Meilenstein im Kampf gegen die Klimaerwärmung feiern, sieht die SVP es als inakzeptable Einmischung fremder Richter – und fordert, dass die Schweiz die Europäische Menschenrechtskonvention kündigt.
Kritisiert wird das Urteil auch in der FDP und in der Mitte. Das Gericht sei bei der Auslegung der Menschenrechte zu weit gegangen, finden viele. Vor diesem Hintergrund schlägt die Rechtskommission des Ständerates vor, dass das Parlament eine Erklärung zum Urteil abgibt. Die Nationalratskommission zeigte sich am Mittwoch einverstanden damit.
Appell an den Bundesrat
Die Erklärung hat es in sich: Darin steht, der Bundesrat solle die zuständigen Gremien des Europarates darüber informieren,«dass die Schweiz keinen Anlass sieht, dem Urteil des Gerichtshofs vom 9. April 2024 weitere Folge zu geben». Würde der Bundesrat also dazu aufgefordert, ein unliebsames Urteil einfach zu ignorieren und so letztlich die Gewaltenteilung zu missachten und die Legitimität des EGMR zu untergraben?
So sehen es etwa die Klimaseniorinnen. Sie haben die Klage beim EGMR eingereicht und gewonnen. Nun erinnern sie daran, dass sich die Schweiz verpflichtet habe, Urteile dieses Gerichts zu befolgen. Wegen der geplanten Erklärung appellieren sie an den Bundesrat, den Rechtsstaat zu schützen – und nicht das Urteil, sondern eine allfällige Erklärung des Parlaments zu ignorieren.
«Wir akzeptieren es»
Verfechter der Erklärung widersprechen. Es handle sich keineswegs um eine Aufforderung, das Urteil zu ignorieren, sagen sie. «Wir akzeptieren es (wenn auch unter Protest)», schrieb FDP-Ständerat Andrea Caroni auf der Plattform X. Das Argument: Im umstrittenen Satz stehe, man solle dem Urteil «keine weitere Folge» geben, mit Betonung auf «weitere» im Sinne von «zusätzliche». Der Bundesrat solle darlegen, dass die Schweiz in der Zwischenzeit Klimamassnahmen beschlossen habe, etwa im neuen CO₂-Gesetz. Allerdings hatten Mitglieder der Rechtskommission selber das Wort «ignorieren» verwendet.
Angesichts dieser Diskussionen sind auch bürgerliche Politikerinnen und Politiker mit der Erklärung nicht ganz glücklich. Manchen ist unwohl dabei, sie in diesem Wortlaut gutzuheissen. Im Ständerat sind nun Bemühungen für eine alternative Erklärung im Gang – ohne den umstrittenen Satz. Die neue Variante würde Kritik am Urteil enthalten und auf die bereits beschlossenen Klimamassnahmen hinweisen, den Bundesrat aber nicht dazu auffordern, das Urteil zu ignorieren beziehungsweise ihm keine weitere Folge zu geben.
Der Ständerat als «Reflex-Kammer»
Mitte-Ständerätin Andrea Gmür-Schönenberger gehört zu den Befürworterinnen einer Alternativerklärung. Sie sagt: «Die Kritik finde ich absolut richtig, aber sie geht mir ein bisschen zu weit.» Der Ständerat wird kommenden Mittwoch über den Vorschlag seiner Kommission und Anträge für Alternativen entscheiden.
In der Rechtskommission des Nationalrates stand diese Woche laut Kommissionsmitgliedern ebenfalls eine Alternative zur Diskussion, fand aber keine Mehrheit. Allerdings habe sich die Kommission nur sehr kurz mit dem Thema befasst. «Das war alles andere als seriös», sagt Kommissionsmitglied Sibel Arslan, Nationalrätin der Grünen. Über die Erklärung in der ursprünglichen Version schüttelt Arslan den Kopf. Der Ständerat würde damit definitiv von einer «chambre de réflexion» zu einer «chambre de réflexe», sagt sie.
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