Konflikt um Gerichtshof für MenschenrechteAufstand im Ständerat gegen Strassburger Gericht: Schweiz soll Klima-Urteil ignorieren
Die Rechtskommission des Ständerats sagt, der Europäische Menschenrechtsgerichtshof sei zu weit gegangen.
Es ist ein beispielloser Vorgang im Bundeshaus: Eine Kommission des schweizerischen Parlaments fordert den Bundesrat formell dazu auf, ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu ignorieren. Die Landesregierung soll im Europarat mitteilen, «dass die Schweiz keinen Anlass sieht, dem Urteil des Gerichtshofs vom 9. April weitere Folge zu geben».
Das steht wörtlich in einer Erklärung, welche die Rechtskommission des Ständerats am Dienstag mit klarem Mehr verabschiedet hat. Die Kommission hofft, dass sich der ganze Ständerat hinter ihre Erklärung stellt – das soll in der Sommersession passieren, die nächste Woche beginnt.
Die Erklärung, die anderthalb A4-Seiten umfasst, lässt kein gutes Haar am Entscheid der Strassburger Richter. Diese hatten einer Klage der sogenannten Klimaseniorinnen recht gegeben und die Klimamassnahmen der Schweiz als ungenügend beurteilt. Mit diesem Urteil betreibe der Gerichtshof «unzulässigen und unangemessenen gerichtlichen Aktivismus», hält die Kommission fest. Das Urteil «überschreitet die Grenzen der dynamischen Auslegung», und «die Grenzen der zulässigen Rechtsfortentwicklung» würden «überstrapaziert».
Das Instrument der politischen Erklärung wird recht selten angewandt. Laut dem Parlamentsrecht können National- oder Ständerat solche Erklärungen «zu wichtigen Ereignissen oder Problemen der Aussen- oder Innenpolitik» abgeben. Die letzten solchen Erklärungen erliessen die beiden Räte 2023 zur Menschenrechtssituation im Iran und 2022 zum Krieg in der Ukraine. Auf der Website des Parlaments ist jedoch kein einziger Fall aufgeführt, in dem mit einer solchen Erklärung ein Urteil eines internationalen Gerichts kritisiert worden wäre.
Die Kommission anerkennt in ihrer Erklärung zwar «die historische Bedeutung» der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Sie habe den Schutz der Grundrechte nicht nur in Europa, sondern auch in der Schweiz entscheidend weitergebracht.
Mit dem Klima-Urteil sei der Gerichtshof aber zu weit gegangen: Er habe «neues Recht geschaffen» und die Anwendung der EMRK «überdehnt», sagte Kommissionspräsident Daniel Jositsch vor den Medien. Der Bundesrat solle dem Ministerkomitee des Europarats auch mitteilen, dass die Schweiz mit ihrer Klimapolitik auf Kurs sei.
Beat Rieders Antrag
Eingebracht wurde der Antrag gemäss zuverlässigen Informationen vom Walliser Mitte-Ständerat und Rechtsanwalt Beat Rieder. Die Kommission stimmte ihr mit 10 gegen 3 Stimmen zu. Ja sagten alle Vertreter der Mitte, der FDP und der SVP sowie der Kommissionspräsident Daniel Jositsch (SP). Gegen die Erklärung stimmten die zwei anderen Vertreter der SP sowie die Grüne Céline Vara.
Zuvor hatte die Kommission neun Expertinnen und Experten angehört, darunter Rechtsprofessoren wie Giorgio Malinverni (Universität Genf) und Oliver Diggelmann (Universität Zürich), die frühere EGMR-Richterin Helene Keller sowie Bundesrichter Thomas Stadelmann (Mitte).
Ein unterlegenes Kommissionsmitglied, Carlo Sommaruga (Genf, SP), kritisierte den Entscheid scharf. Die Erklärung sei eine «unzulässige Einmischung der Politik in die Justiz» und «ein Verstoss gegen die Gewaltenteilung». Die evolutive Rechtssprechung, die die Rechtskommission nun kritisiere, gebe es auch in der Schweiz selber. Daher sei die Kritik der Kommission einerseits «inhaltlich lächerlich», andererseits aber auch «politisch besorgniserregend». Lisa Mazzone, die Präsidentin der Grünen, sprach von «einem schweren Angriff auf die Institutionen und die Achtung der Menschenrechte».
SVP will EMRK kündigen
Jositsch hingegen sagte, die Kommission wolle mit ihrer Erklärung auch «weitergehende Vorschläge entkräften». Damit bezieht er sich unter anderem auf einen Entscheid der SVP-Fraktion: Diese hat einstimmig gefordert, dass die Schweiz die Europäische Menschrechtskonvention kündige.
Schon im April haben Mitte-Nationalrat Thomas Rechsteiner und FDP-Nationalrat Peter Schilliger in einem parlamentarischen Vorstoss das Gleiche verlangt. Die FDP wiederum hat den Bundesrat aufgefordert, zusammen mit den anderen Vertragsstaaten ein neues Zusatzprotokoll zur EMRK auszuhandeln, um den Gerichtshof «auf seine Kernaufgabe zurückzuführen».
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