Gastbeitrag zur KircheWie die Täufer das Denken unserer Zeit geprägt haben
Die Täuferbewegung, die sich von Zürich aus über ganz Europa verbreitete, wird 500 Jahre alt. Können wir heute noch von ihr lernen?

Wie politisch soll Kirche sein? Diese Frage wurde und wird immer wieder gestellt, vor allem wenn Volksabstimmungen anstehen, wo Gegner oder Befürworter einer Initiative das Gefühl haben, die Kirche setze sich für die falsche Seite ein. Die einen finden dann, die Kirche sollte sich aus dem Abstimmungskampf heraushalten, die andern entgegnen, wenn die Kirche nicht politisch Farbe bekenne, habe sie aufgehört zu existieren. Denn nur eine politische Kirche sei wirklich eine Kirche.
Im Prinzip beschäftigt diese Frage die Kirche seit ihrer Entstehung vor ungefähr 2000 Jahren. Im 16. Jahrhundert, zur Zeit der Reformation, erhielt die Frage mit der Entstehung der Reformierten Kirche zusätzliche Brisanz. Die neue, von Papst und Klerus losgelöste Reformierte Kirche suchte sogleich die Nähe und Anbindung an die bestehenden politischen Institutionen.
Reformatoren wie Huldrych Zwingli liessen den Zürcher Stadtrat über Zwang oder Freiwilligkeit der christlichen Kindertaufe entscheiden. Nicht alle Menschen befürworteten diese neue Art von Kirche. Einige Kantone – insbesondere in der Innerschweiz – wollten bei der alten Kirche mit Papst und Bischöfen bleiben und religiöse Fragen von Kirchenleuten entscheiden lassen.
Nebst den beiden Blöcken, den neugläubigen Reformierten und den altgläubigen Katholiken, formierte sich eine dritte Bewegung, die die Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Politik aus einer anderen Perspektive beantwortete: aus der Perspektive des Individuums. Sie verwarf die Idee einer alles umfassenden christlichen Gesellschaft und Obrigkeit und machte sich stattdessen für eine christliche Kirche der Freiwilligen stark. Ihr Hauptanliegen war nicht mehr, die Gesellschaft christlicher – was auch immer darunter verstanden wurde: gerechter, freier, sozialer, von Rom abhängig oder unabhängig – zu machen, sondern sie fragten sich: Wie kann ich als einzelner Mensch konsequent christlich und gottgefällig leben?
Von der Obrigkeit gefürchtet
Interessanterweise löste die Umsetzung dieser auf den ersten Blick eher aufs Private konzentrierten Glaubensvorstellung ein politisches Erdbeben in Zürich und der Schweiz aus: Die Obrigkeiten fürchteten sich vor dieser neuen sogenannten Täuferbewegung so sehr, dass sie sofort begannen, sie zu verfolgen. Was vor bald 500 Jahren im Herzen Zürichs in einer Privatwohnung durch die Wiedertaufe des Bündner Ex-Priesters Georg Cajacob – auch Blaurock genannt – begann, sprach Hunderttausende von Menschen aus allen Bevölkerungsschichten in ganz Europa an.
Die Täufer wurden in der Folge in fast allen Ländern – von reformierter wie auch katholischer Seite – massiv verfolgt. Tausende landeten auf dem Scheiterhaufen oder wurden ertränkt. Es gab damals nur wenige tolerante Gebiete, wo die Täufer überleben konnten, so in Mähren (heutige Tschechische Republik) und in den Vereinigten Provinzen der Niederlande. In der Schweiz wurde die Täuferbewegung erst im 19. Jahrhundert erlaubt.
Damals setzte sich die Idee durch, dass nicht Institutionen glauben und politisieren sollten, sondern Menschen. Und öffentliche Institutionen lediglich die Aufgabe haben, jedem Menschen die Freiheit zum Glauben und die Freiheit zum Politisieren – aber auch zum Nicht-Glauben und Nicht-Politisieren – zu ermöglichen. Die Frage, wie politisch Kirche sein soll, könnte auf dem Hintergrund der 500-jährigen Geschichte der Täuferbewegung neu diskutiert werden, damit die Kirche wieder glaubwürdiger wird.
Markus A. Jost ist freier Autor und wissenschaftlicher Bibliothekar an der Universität Fribourg.
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