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Religionsgraben in der Schweiz
Konfessionslose im Parlament untervertreten – die exklusiven Zahlen 

Das Bundeshaus, links, und die Kirche Sankt Peter und Paul im Abendrot, am Mittwoch, 6. Oktober 2010 in Bern. (KEYSTONE/Peter Klaunzer)
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Der religiöse Kipppunkt in der Schweiz wird erreicht am Morgen des 26. Januar 2024.

An diesem Tag verschickt das Bundesamt für Statistik (BFS) seine neue Religionsstatistik – wie jedes Jahr. Doch dieses Mal finden die trockenen Zahlen viel mehr Resonanz als sonst. Von einem «historischen Wendepunkt» schreibt diese Redaktion. Die NZZ setzt eine Schlagzeile wie ein alttestamentlicher Untergangsprophet: «Die gottlosen Heerscharen».

Menschen, die sich zu keiner Kirche zählen, bilden erstmals die grösste Gruppe der Bevölkerung. 34 Prozent gehören keiner Religionsgemeinschaft mehr an. Vor 50 Jahren war es 1 (!) Prozent.

Schon vor Jahren haben die Konfessionslosen die Evangelisch-Reformierten überholt (heute noch 20,5 Prozent). Nun lassen sie auch die Römisch-Katholiken (32,1 Prozent) hinter sich. 5,6 Prozent zählen überdies zu evangelischen Freikirchen und weiteren christlichen Gemeinschaften.

Die Parlamentsmitglieder, vorne von links, Nationalrat Markus Ritter, Mitte-SG, und Staenderat Peter Hegglin, Mitte-ZG, verlassen die Kirche nach Beendigung einer Evakuierungsuebung des Bundeshauses, am Rand der Fruehjahrssession der Eidgenoessischen Raete, am Mittwoch, 6. Maerz 2024 in der katholischen Dreifaltigkeitskirche in Bern. Alle anwesenden Personen mussten auf Kommando des Ratspraesidenten das Parlamentsgebaeude verlassen und sich zum vereinbarten Treffpunkt in der Kirche begeben, wo die Uebung abgeschlossen wurde. (KEYSTONE/Alessandro della Valle)

Der Trend scheint unumkehrbar: Schon in den 2030er-Jahren dürften Kirchenmitglieder, alle Konfessionen vereint, weniger als 50 Prozent sein in einem Land, das ein Kreuz in seiner Fahne hat, einen Psalm als Nationalhymne singt und in seiner Verfassung den Namen Gottes anruft.

Frohe Botschaft für die Kirchen

Seitdem die Kirchen vom BFS diese Hiobsbotschaft erhalten haben, ist ein halbes Jahr vergangen. Doch jetzt kommt für sie eine neue frohere Botschaft: Es gibt ihn noch den Ort, wo die Kirchenmitglieder eine Macht sind. Das Bundeshaus.

75 Prozent der 246 Parlamentarier sind Kirchenmitglieder. Das ist eine massive Übervertretung im Vergleich zur Gesamtbevölkerung (58 Prozent). 40 Prozent der Parlamentarier sind katholisch, 31,9 Prozent sind reformiert, 3 Prozent gehören Freikirchen an. Das Parlament: eine Bastion gegen die Säkularisierung.

Erhoben hat diese Zahlen ein Team der Universität Bern um den Politologie-Professor Adrian Vatter für die aktualisierte und erweiterte Neuauflage des Buchs «Das politische System der Schweiz». Das Werk erscheint im September, doch dieser Redaktion liegen die Daten bereits vor.

Portraits von Rahel Freiburghaus und und Adrian Vatter für die neue Polit-Kolumne. © Adrian Moser / Tamedia AG

Vatter und sein Team haben Angaben der Politiker auf der Plattform Smartvote ausgewertet und eine eigene Befragung durchgeführt. So konnten sie bei 232 der 246 Parlamentsmitglieder die Religionszugehörigkeit bestimmen.

Zwei Muslime, zwei Juden

Die Erhebung zeigt auch, dass im Parlament nicht nur die Konfessionslosen, sondern auch die Muslime stark untervertreten sind. Während 5,9 Prozent der Bevölkerung muslimisch sind, gibt es nur zwei muslimische Parlamentarier: den Zürcher SP-Nationalrat Islam Alijaj und den (zum Islam konvertierten) Genfer Ständerat Mauro Poggia (MCG). Zahlenmässig besser repräsentiert sind die Juden durch Daniel Jositsch und Samuel Bendahan (beide SP).

Es ist die erste derartige Untersuchung seit 2017, als die NZZ eine ähnliche Erhebung machte. Damals hatten sich erst 12,5 Prozent der Nationalräte als konfessionslos bezeichnet, heute sind es doppelt so viele – aber markant weniger als im Volk. Der Ständerat hingegen scheint vollständig immun gegen die Säkularisierung. Hier ist der Anteil der Konfessionslosen praktisch unverändert bei 14 Prozent.

«Elite-Basis-Religionsgraben»

Adrian Vatter spricht von einem «Elite-Basis-Religionsgraben». Er erklärt ihn so: «Das Parlament war noch nie ein Mikrokosmos der Bevölkerung.» Vielmehr gehörten dessen Mitglieder einer gesellschaftlichen Elite an. Diese Elite hebe sich nicht nur durch ihre finanziellen Mittel von der Bevölkerung ab, sondern auch durch einen gewissen Habitus – etwa indem sie häufiger kulturelle Anlässe besuche. «Auch in Sachen Religion erfüllen sie eher althergebrachte Erwartungen.»

Eine weitere Erklärung liefert Nationalrat Marc Jost von der Evangelischen Volkspartei (EVP), der einzigen Partei, die die Konfession im Namen trägt. Jost erklärt sich die hohe Zahl von Kirchenmitgliedern auch damit, dass sich religiöse Menschen laut Studien eher gesellschaftlich engagieren als nicht religiöse.

Im Parlament sei die Religion jedoch nur selten ein Thema, sagt Jost. «Nur eine Minderheit der Parlamentsmitglieder praktiziert intensiv und redet vielleicht auch einmal über Glaubensfragen.»

«Radikaler Agnostiker»

Tatsächlich praktizieren viele Parlamentarier kaum. «Ich bin auf dem Papier katholisch, aber im Herzen konfessionslos», sagt SP-Nationalrätin Céline Widmer. GLP-Nationalrat Beat Flach sagt, er sei «ein radikaler Agnostiker», aber trotzdem Mitglied der reformierten Kirche. Flach begründet dies damit, dass die Kirchen gemeinnützig tätig seien; das unterstütze er gerne mit seiner Kirchensteuer. «Wenn der Staat diese Leistungen mit bezahlter Arbeit erbringen würde, wäre das viel teurer.»

Nationalraetin Celine Widmer, SP-ZH, am Dienstag, 19. September 2023 im Bundeshaus in Bern. (KEYSTONE/Alessandro della Valle)

Der parlamentarische Alltag ist kaum religiös geprägt – mit zwei Ausnahmen. Erstens der religiöse Amtseid, den viele Parlamentarier ablegen. Zweitens die «Besinnungen unter der Bundeskuppel», die während der Session jeden Mittwochmorgen stattfinden. Zwei reformierte und zwei katholische Pfarrpersonen halten im Turnus eine Andacht. Eingeladen sind alle Parlamentsmitglieder, zehn bis zwanzig würden jeweils teilnehmen, sagt Marc Jost, der mit dem Mitte-Ständerat Stefan Engler für die Treffen verantwortlich ist.

Zudem gibt es eine parlamentarische Gruppe Christ und Politik – so wie es auch parlamentarische Gruppen für das Klima, die Feuerwehr, die Komplementärmedizin und Dutzende weiterer Themen gibt. Die Gruppe Christ und Politik verfolge keinerlei parteipolitischen Absichten, sagt der Co-Präsident, FDP-Nationalrat Laurent Wehrli. «Wir sind keine Theokratie und wollen auch nie eine sein.»

13 Nationalratsmitglieder aus fünf Parteien gehören der Gruppe an. Nur schon das zeige, dass der persönliche Glaube der Politiker «keinen direkten Einfluss auf die Parteipolitik habe» – ausser vielleicht bei einzelnen sehr ethischen Fragen, sagt Wehrli. Vielmehr seien die Zusammenkünfte der Gruppe «ein persönlicher Moment des Innehaltens und Teilens gemeinsamer Werte».

Die Mitte hält den Rekord

Die kirchliche Durchdringung der Parteien ist sehr unterschiedlich. Von den Mitte-Parlamentariern sind über 95 Prozent Kirchenmitglieder. Obwohl sich die Partei, die früher CVP hiess, mit ihrem Namenswechsel von ihrem katholischen Milieu zu lösen versucht, sind immer noch 85 Prozent katholisch und nur knapp 10 Prozent reformiert.

Auch bei SVP und FDP gehören fast 90 Prozent einer Kirche an. Bemerkenswert: Die SVP war einst reformiert geprägt, heute sind fast die Hälfte der Fraktionsmitglieder katholisch. Die einzige Partei, in der die Konfessionslosen eine, wenn auch knappe Mehrheit stellen, ist die SP.

Nationalrat Marc Jost, EVP-BE, am Mittwoch, 20. September 2023 im Bundeshaus in Bern. (KEYSTONE/Alessandro della Valle)

Hat die Dominanz von Kirchenmitgliedern Auswirkungen auf politische Entscheide? Fast alle Gesprächspartner, denen diese Redaktion diese Frage stellte, verwiesen darauf, dass die meisten kirchenpolitischen Fragen nicht auf Bundesebene verhandelt werden. Kirchensteuern werden im Kanton bezahlt, auch das Verhältnis von Kirche und Staat ist kantonal geregelt.

Trotzdem würden auch auf nationaler Ebene Entscheide mit religiösem Bezug gefällt, sagt Sonja Stocker, Co-Präsidentin der Freidenker-Vereinigung. Ihre Vereinigung stösst sich etwa am Blasphemieverbot im Strafgesetzbuch und daran, dass es ausschliesslich religiöse Armeeseelsorge gibt. Wenn das Parlament über solche Fragen entscheide, gebe es wegen der religiösen Prägung konservativere Mehrheiten als in der Bevölkerung, kritisiert Stocker.

Ständerat in katholischer Hand

«Man spürt im Parlament nur selten, dass jemand anders entscheidet, weil er religiös ist», sagt SP-Nationalrat Fabian Molina, selber konfessionslos. Die starke Untervertretung der muslimischen Bevölkerung habe aber Auswirkungen auf die Migrationspolitik, sagt Molina. Auch in der Gesellschaftspolitik könne es spürbar sein. So habe die vergleichsweise späte Einführung der Ehe für alle mit der katholischen Dominanz im Ständerat zu tun, glaubt Molina.

Tatsächlich bietet der Ständerat ein bemerkenswertes Bild. 1848 wurde er geschaffen, um die Mitsprache der im Sonderbundskrieg unterlegenen katholischen Kantone zu sichern. Das wirkt bis heute nach: 176 Jahre später haben die Katholiken im Stöckli eine absolute Mehrheit von 56 Prozent.

EVP-Nationalrat Marc Jost glaubt trotzdem nicht, dass das Parlament Entscheide fällt, die den nicht religiösen Teil der Bevölkerung diskriminieren – im Gegenteil. Die Entwicklung der Menschenrechte in Europa sei nicht zuletzt auf den Einfluss des Christentums zurückzuführen gewesen, sagt Jost. «Gerade darum sollte ein Parlamentarier, der sich als Christ versteht, keine religiösen Partikularinteressen vertreten, sondern das Gemeinwohl und auch den Schutz andersgläubiger Minderheiten besonders im Blick haben.»

Adrian Vatter, «Das politische System der Schweiz», 5. aktualisierte und erweiterte Auflage, ca. 590 Seiten, Nomos. Ab September 2024 erhältlich.