Analyse zu Kevin Kühnerts RücktrittAus der Zukunftshoffnung der SPD wurde ein Gesicht des Niedergangs
Er werde dereinst Kanzler – oder seine SPD in die Luft sprengen, hiess es über Kevin Kühnert. Doch mit 35 Jahren verglühte das Talent als freudloser Verwalter.

- Kevin Kühnert ist aus gesundheitlichen Gründen abrupt als SPD-Generalsekretär zurückgetreten.
- Der Druck auf ihn war wegen Wahlniederlagen und innerparteilicher Kritik gross.
- Der Parteilinke Matthias Miersch soll sein Nachfolger werden.
- Kühnert nannte homophobe Beleidigungen als Beispiel für gesellschaftliche Spannungen.
Wie viele Menschen in der Hochleistungspolitik war Kevin Kühnert, der Antreiber, im Grunde ein Getriebener. Es genügt, sich noch einmal Szenen aus einer TV-Dokumentation über ihn anzuschauen, die seinen Aufstieg nachzeichnet: ein junger Mann, der raucht, redet, liest, redet, raucht. Ruhelos. Mehr als fünf Stunden schlafe er nie.
Als linker Feuerkopf und Chef der Jungsozialisten wollte Kühnert die SPD daran hindern, ein drittes Mal mit der Christdemokratin Angela Merkel zu regieren. 2017/18 war das. Wochenlang quälte er seine Partei, indem er den Abgrund zwischen deren Idealen und dem grosskoalitionär Möglichen in den grellsten Farben ausleuchtete. Es gehe um nichts weniger als das Überleben der SPD, rief er.
Mit seiner «No-Groko»-Mission scheiterte Kühnert, aber er tat dies derart leidenschaftlich und brillant, dass die Partei künftig nicht mehr auf ihn verzichten wollte. Der junge Berliner stieg in den Vorstand auf, wurde Vizechef der Partei, im Dezember 2021 Generalsekretär.
Ältere Linke sahen in ihm ein Talent, wie es einst Oskar Lafontaine war. Der Volkstribun riss in den 1990er-Jahren erst seine Partei mit und führte sie mit Gerhard Schröder ins Kanzleramt – bevor er sie im Streit gleich wieder spaltete. Kühnert traute man Ähnliches zu. Er werde wohl irgendwann Kanzler, schrieb der «Spiegel» 2021, oder er jage die SPD in die Luft. Nicht weniger.
Der Druck auf Kühnert war zuletzt enorm
Seit Montag steht fest, dass das Versprechen unerfüllt bleiben wird, jedenfalls fürs Erste. Ohne vorhergehende Zeichen der Schwäche und ohne Vorwarnung trat Kevin Kühnert per sofort von seinem Amt als Generalsekretär zurück. Weil er nicht gesund sei, werde er die Politik vorerst ganz verlassen, schrieb der 35-Jährige, und kündigte an, im nächsten Jahr auch nicht mehr für den Bundestag zu kandidieren. Kühnerts Nachfolger als «General» soll der Parteilinke Matthias Miersch werden.
Wer nach konkreten Gründen für den schlagartigen Ausstieg sucht, in der Partei sprach man von «psychischen Problemen», kann natürlich anführen, dass der Druck auf Kühnert zuletzt enorm war. Seit fast zwei Jahren hat seine SPD, deren Wahlkampfmanager er war, keine Wahl mehr gewonnen. In Umfragen steht die Kanzlerpartei auf Platz 3 hinter der AfD.
Vor allem der missglückte Europawahlkampf, in dem die SPD Olaf Scholz als Ukraine-Unterstützer und Friedensgaranten zugleich plakatierte, wurde Kühnert angelastet. Parteichef Lars Klingbeil distanzierte sich öffentlich. Immer öfter rieb sich Kühnert daran auf, die Politik des Kanzlers öffentlich zu verteidigen – auch weil er politisch in vielem dessen Antipode ist, was natürlich alle wissen.
Je mehr die Kritik am Kanzler auch in der eigenen Partei wuchs, desto schwieriger wurde es, die Fliehkräfte zu moderieren. Bei Fragen von Krieg und Frieden, Migration oder innerer Sicherheit sprach die SPD zuletzt laut vernehmbar nicht mehr mit einer Stimme. Kühnert stand der Kakofonie zunehmend hilf- und ratlos gegenüber.
Zuletzt ging am Wochenende noch eine Wutwelle aus seiner eigenen queeren Community über ihm nieder. In einem Interview im «Spiegel» hatte Kühnert gesagt, dass er von muslimischen Jungs in Berlin häufiger homophob beleidigt werde als von anderen Gruppen. Darüber werde er nicht «aus taktischen Gründen» schweigen. Schwule Aktivisten warfen ihm darauf Rassismus vor.
Ausgerechnet der Visionär liess es an Visionen fehlen
Die SPD müsse wieder «Visionen» haben und «die Zukunft im Herzen tragen», verlangte Kühnert 2019, als er sich für den Vorstand der Partei bewarb. Er wurde gewählt, weil viele ihm gerade das zutrauten. Doch an Visionen liess er es fehlen. Vor allem als Generalsekretär kommunizierte er fast nur noch in die Partei hinein. Mit Ideen, die über die SPD hinausgewiesen und Menschen erreicht hätten, die diese nicht sowieso schon wählen, fiel er nicht auf.
Anders als andere Linke zeigte er auch wenig Neugierde auf den gesellschaftlichen Wandel, der sich vor seinen Augen vollzog. Der konservativen Drift, die auch in der politischen Mitte immer stärker wirkte, begegnete er nicht mit Konzepten oder Widerstand, sondern defensiv und resigniert. So wurde der vermeintliche Hoffnungsträger zum Gesicht des Niedergangs seiner Partei. So wurde aus dem «feurigen Erneuerer der Notar des nicht Erneuerten und vielleicht auch nicht Erneuerbaren», wie die «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung» schon im Sommer schrieb.
«Jeder von uns muss und wird in dieser Kampagne über sich hinauswachsen», sagte Kühnert mit Blick auf den Bundestagswahlkampf 2025 noch am Wochenende in einem grossen Gespräch im «Spiegel». Im Schreiben, in dem er zwei Tage später seinen Rücktritt begründete, fügte er hinzu: «Ich selbst kann es im Moment nicht, weil ich leider nicht gesund bin.» Kühnerts Abgang ist für die SPD in jedem Fall ein grosser Verlust.
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