Entwicklungshilfe in KeniaDie Schweiz fördert Flüchtlinge, die Unternehmer werden wollen
Im Flüchtlingslager Dadaab finanziert der Bund eine Organisation, die Kredite vergibt. Abdullahi Esmail hat 13’000 Franken für sein Geschäft aufgenommen. Kann das funktionieren? Ein Besuch.
- Im Camp Dadaab gründete Abdullahi Esmail seinen Elektronikladen «Qalinle Electronics».
- Mikrokredite von Inkomoko halfen ihm, sein Geschäft erheblich auszubauen.
- Die Schweizer Entwicklungshilfe unterstützt Inkomoko, das Flüchtlingen wirtschaftliche Unabhängigkeit ermöglichen soll.
Neonlichter blinken und formen zwei Worte: «Qalinle Electronics». Qalinle heisst übersetzt Kunstzahn. Und das ist erst einmal ein kurioser Name für einen Laden, der Solarlampen, Kopfhörer und Rasierer verkauft. Aber eigentlich ist es genau der richtige. Denn er zeigt, was es Abdullahi Esmail bedeutet, dass er eben nicht mehr nur Flüchtling, sondern vor allem Inhaber eines Elektroshops ist. Seines Shops.
Der 31-Jährige ist einer von knapp 400’000 Flüchtlingen, die in Dadaab im Nordosten von Kenia leben. Wie praktisch alle hier floh er aus Somalia. Kritiker nennen das Camp «Open-Air-Gefängnis». Abdullahi Esmail darf nur in Ausnahmefällen raus – und er muss immer wieder hierhin zurückkehren. Seit er vier Jahre alt ist, gibt es für ihn nur einen Ort: Dadaab.
Abdullahi Esmails Vater hiess Mohamed. Und weil es in Somalia nur wenige Kunstzähne gibt, war das mit dem Spitznamen nicht so schwer. «Alle nannten ihn Qalinle», sagt der Unternehmer. Und jetzt nennt er seinen Shop im Flüchtlingscamp eben auch so. Damit sein Vater weiterlebt. «Um ihn stolz zu machen», sagt Esmail.
Qalinle Electronics startete Abdullahi Esmail 2013. Ganz klein. So richtig gut bestückt sind seine mit Lichtern verzierten Holzgestelle aber erst seit letztem Jahr. Dann hat Esmail seinen ersten Kredit aufgenommen: knapp 5000 Franken.
Inkomoko vergibt Kredite
Hätte er schon früher gemacht. Doch normale Banken vergeben in Dadaab keine Kredite an Flüchtlinge. In diese Lücke sprang die Organisation Inkomoko. In Dadaab hat Inkomoko bisher 1360 Kredite vergeben. Mit der finanziellen Unterstützung der Schweizer Entwicklungshilfe – rund 4 Millionen Franken – sollen in den nächsten vier Jahren weitere 5000 Flüchtlinge im Camp gefördert werden. 60 Prozent davon sollen Frauen sein.
«Private Capital», «Leveraging», «Growth»: Inkomoko verwendet eine Sprache, die eher nach Wirtschaftsberatung als nach Flüchtlingshilfe klingt. Julien Peissard, der für die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) die Entwicklungshilfe in Ostafrika arbeitet, sagt beim Besuch in Dadaab: «Es ist ein neuer Ansatz, der die Selbstständigkeit der Flüchtlinge stärkt. Und er kommt zur richtigen Zeit.»
Denn Kenia hat kürzlich den sogenannten Shirika-Plan vorgestellt, den die Schweiz unterstützt. Dieser sieht vor, dass Flüchtlinge wie Abdullahi Esmail nicht mehr in Camps leben, sondern sich überall im Land niederlassen und auch arbeiten dürfen.
Doch bis jetzt ist es erst ein Plan. Aktivistinnen und Experten glauben nicht wirklich daran. Und auch sonst stellt sich die Frage: Kann hier, im abgelegenen Dadaab, bedroht von Milizen der Terrororganisation al-Shabaab und geplagt von Dürren, eine funktionierende Wirtschaft entstehen?
Umsatz verdoppelt sich nach Kredit
Im Büro von Inkomoko stellt sich ein junger Mann, der selbst aus Somalia flüchtete, als «Business Development Advisor» vor. Er ist so etwas wie der Bankberater von Abdullahi Esmail und seinem Elektroladen.
Der Berater erklärt, wie Abdullah Esmail zum Unternehmer wurde. Zuerst lud er Esmail zu einem Business-Coaching ein. Dann genehmigte er ihm den ersten Kredit, den dieser zu einem für Kenia sehr geringen Zinssatz von zehn Prozent über ein Jahr monatlich zurückbezahlt. Und nun hat er eine weitere Summe bewilligt: knapp 14’000 Franken. Denn Qalinle Electronics hat mittlerweile drei Angestellte und will weiter wachsen.
Julienne Oyler ist die Co-Gründerin von Inkomoko. Sie sagt: «Wer geflüchtet ist, ist sehr resilient. Und Somalis haben einen starken Unternehmergeist.» Als sie 2021 zum ersten Mal nach Dadaab reiste, sei sie erstaunt gewesen, wie gut der freie Markt hier bereits funktionierte. «Weil wir ihn nun ankurbeln, gibt es mehr Jobs, die Menschen können ihre Kinder in die Schule schicken – kurz: Sie führen ein besseres Leben.»
Studien bestätigen, dass kleine Kredite die Lebensqualität einiger Menschen in Flüchtlingscamps erhöhen können. Oft sei das nachhaltiger als traditionelle Entwicklungshilfe. Von den Krediten profitieren jedoch vor allem jene Flüchtlinge, die ein Unternehmen gründen können und wollen, während die anderen weiterhin auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Und wenn Flüchtlinge die Kredite nicht zurückzahlen können, bekommen sie es oft mit der Angst zu tun.
Wenn Abdullahi Esmail mit den Zahlungen in Verzug käme, würde sein Berater ein Gespräch organisieren. Im drastischsten Fall könnte er ihm Rasierer und Solarlampen wegnehmen. Das passiere aber fast nie, sagt Julienne Oyler. «Wir wollen, dass unsere Klienten uns so ernst nehmen wie eine normale Bank. Aber wir müssen nicht so strikt sein.» Die Flüchtlinge seien sehr vulnerabel und müssten beschützt werden.
Hautcreme und halb grüne Tomaten
Fatuma Gedi trägt einen Ganzkörperschleier und sitzt unter einem Dach aus Wellblech. Fliegen kreisen über den halb grünen Tomaten, die sie verkauft. Auch die 32-Jährige ist im Gespräch mit Inkomoko und will bald einen Kredit aufnehmen. So könnte sie ihr Sortiment vergrössern. «Und hoffentlich meinen sechs Kindern mehr ermöglichen», sagt sie.
60 Prozent der Menschen in Dadaab sind minderjährig. Basra Arishur (19) hat im März ihren ersten Kredit von Inkomoko erhalten: rund 300 Franken. Mit ihrem Beauty-Center steht sie noch am Anfang. Auf die Frage nach ihrem beliebtesten Produkt zieht sie seine grüne Tube aus ihrem Holzgestell: Eine Hautcreme mit Safran-Extrakt, die vor Pickeln schützt. Ihre Produkte kauft Basra Arishur auf dem Markt im Camp und verkauft sie dann teurer weiter. Die Margen sind minimal.
Julien Peissard von der Deza sagt auf dem Markt in Dadaab, dass die Flüchtlinge hier extrem benachteiligt seien, weil sie das Camp nicht verlassen dürften. «Da leben Menschen seit 30 Jahren hier, haben keine Dokumente und können sich nicht mal für eine SIM-Karte registrieren.» Es liege auch im Interesse der kenianischen Regierung, den Shirika-Plan umzusetzen. «Sonst bleiben diese Camps aussichtslose Ghettos für Menschen, die eigentlich ein unglaubliches Potenzial haben und einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Wirtschaft leisten könnten.»
Ob sich in Dadaab wirklich etwas ändert, ist fraglich. Der Shirika-Plan wird zwar als vorbildlich gelobt. Laut Amnesty International hat Kenia die Bewegungsfreiheit der Flüchtlinge in den letzten Jahren aber sogar noch stärker eingeschränkt.
Nadine Segadlo und Gordon Ogutu vom Netzwerk Fluchtforschung forschen zur kenianischen Flüchtlingspolitik und haben diesen September ein Paper veröffentlicht. Darin schreiben sie, dass Kenia den Shirika-Plan vor allem fördert, um auf der ganzen Welt Spendengelder einzutreiben und durch die Flüchtlinge ökonomischen Profit schlagen zu können. Diese würden nicht angehört und zum wirtschaftlichen Faktor degradiert.
«Es klingt so, als müsste jeder Flüchtling einfach einen Business-Plan schreiben und könne dann für sich selbst sorgen», sagen die Wissenschaftler. Doch das stimme nicht, denn die wirtschaftliche Lage sei im ganzen Land prekär. «Auch für ‹normale› Kenianerinnen.» Ob diese die insgesamt knapp 800’000 Flüchtlinge plötzlich einfach so als Mitbürgerinnen willkommen heissen, ist eine andere Frage.
Ein Unternehmer schämt sich
Abdullahi Esmail kann mit seinem Elektroshop seine Familie und seinen Bruder finanzieren. «Flüchtling zu sein, ist nur ein Umstand», sagt er. Er will mit seinem Shop wachsen. Doch es gibt viele Probleme. 2020 brannte ein Feuer einen Teil des Marktes in Dadaab ab – auch seinen Shop. «Es gab keine Feuerlöscher», sagt Esmail. Stolz verkündete er aber einige Wochen nach dem Brand auf Facebook die Wiedereröffnung: «Quality is our promise», Qualität ist unser Versprechen.
Wenn es stark regnet, sagt Esmail, seien die Sandpisten nach Dadaab manchmal nur schlecht befahrbar. Die Lieferungen seiner Produkte verzögere sich dann: Gebetszähler für Moslems, Laminiergeräte, sogar Gefrierer. «Ich schäme mich, wenn ich meine Kunden warten lassen muss», sagt er.
Julien Peissard von der Deza sagt, es sei wichtig, dass Flüchtlinge wie Abdullahi Esmail in Afrika eine Perspektive hätten. Neben moralischen Gründen läge dies auch im Eigeninteresse der Schweiz. «Menschen mit Perspektiven tendieren nicht dazu, sich von radikalen Ideologien verführen zu lassen oder irregulär in Drittländer auszuwandern.»
In einer Schule in der Nähe von Qalinle Electronics lernen junge Frauen und Männer, Kleider zu nähen. Nach der Ausbildung bekommen sie vielleicht die Möglichkeit, wie Abdullahi Esmail ein Coaching bei Inkomoko zu absolvieren und einen Kredit aufzunehmen.
Beim Besuch fragt Julien Peissard die Flüchtlinge, was sie brauchen, um in Dadaab ihre Geschäftsideen umzusetzen zu können. «Ein Startkapital», sagt eine Frau. Dann fragt ein junger Mann im weissen Hemd, das Massband wie einen Schal um den Hals gelegt: «Gibt es irgendeine Chance für mich, in die Schweiz zu kommen?»
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