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Ende des Zweiten Weltkriegs
Keine Parade in Moskau, doch die Erinnerung lebt

Ein Tempel für die Veteranen: Ein Bauarbeiter betrachtet ein Mosaik in der neu errichteten Kathedrale der russischen Streitkräfte in Moskau.
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Seine Fotos hat Igor Petrow früh ins Museum gebracht, schon Ende Februar. Er wusste natürlich damals nicht, was kommt. Aber Petrow ist jemand, der die Dinge ungern aufschiebt, «man denkt, ich mache es morgen, übermorgen, und dann ist schon der 9. Mai». Der Siegestag.

Er erzählt das am Telefon, seine freien Tage verbringt er auf der Datscha. Die Moskauer sitzen wegen Corona zu Hause, dürfen nicht raus, können nicht arbeiten. Das Museum der russischen Streitkräfte ist seit Wochen geschlossen, wie fast alles. Siegestag? Wird dieses Jahr ganz anders.

Als Igor Petrow im Februar an dem kleinen Panzer vorbeiging, rein ins Museum und durch die Sicherheitsschleuse, ahnte er das noch nicht. Schlechte Laune hatte er trotzdem. Er legte sich mit der Réceptionistin an, die löchert ihn mit Fragen, wer er sei, wo er hin wolle. Er sei Veteranenenkel, antwortete Igor Petrow ungehalten, und schon seit Stunden unterwegs.

Gesucht: Fotos und Lebensläufe von Kriegsteilnehmern

Zuvor war er im Theater der Russischen Armee, wollte dort seine Fotos abgeben. Doch da war der Scanner kaputt. Er folgte einem Aufruf des Verteidigungsministeriums. Das Ministerium sammelt Fotos und Lebensläufe von Kriegsteilnehmern. Deren Kinder und Enkel kamen seit Januar zu den Sammelpunkten, ins Theater, ins Museum, standen ohne Abstand Schlange.

Auch Igor Petrow, 53, hielt das schlicht für seine Pflicht. Beide Grossväter haben gegen die Nazis gekämpft. Das Projekt «Weg der Erinnerung» ist eines von vielen zum Siegestag. Petrow spricht am liebsten über den Vater seines Vaters, der nicht aus dem Krieg zurückkam. Dabei hätte der Buchhalter mit sieben Kindern eigentlich gar nicht an die Front gemusst. «Ich wäre zu Hause geblieben», sagt der Enkel.

Sein Grossvater aber meldete sich freiwillig. Bei einer Attacke rief er «Hurra!», da flog ihm eine Kugel in den Mund. Aus dem Lazarett ist er sofort zurück an die Front, wieder freiwillig. Die Grossmutter schimpfte den Grossvater einen Dummkopf. Der «Dummkopf» fiel Weihnachten 1944 in Ungarn. Während Igor Petrow erzählt, wird er fröhlicher und lauter.

Igor Petrow mit dem Foto seines Grossvaters.

Die Réceptionistin schaut streng herüber, im Museum gelten Regeln. Besucher mit Ticket, die sich die ausgestellten Uniformen und Waffen anschauen wollen, schickt sie zur Garderobe. Die anderen dürfen mit ihren Plastiktüten und Aktentaschen zum Infoschalter gehen. Dort teilen zwei, manchmal drei Mitarbeiter die doppelseitigen Fragebögen aus: Einberufungsdatum, Dienstort, Rang, Todestag des Veteranen und so weiter.

Viele setzen sich mit dem Fragebogen auf die Bank am Rand der hohen Halle. Die ist streng symmetrisch angeordnet, grüne Steinsäulen, eine weisse Treppe führt in der Mitte nach oben. Sie teilt sich auf halber Höhe, dort schaut die grosse Leninbüste von der Brüstung. Die Holzbank steht etwas abseits. Dort hört man die Geschichten, die nicht auf den Fragebogen passen.

Igor Petrow arbeitet als Tierarzt. Immer nur Hunde, Katzen und Kühe behandeln, das allein würde ihm langweilig. Der Krieg ist sein Hobby, er liest viele Bücher. «Seit der Kindheit. Erinnern Sie sich an unsere Propaganda von damals? 30 Jahre des Sieges, 40 Jahre des Sieges … Die Propagandamaschine arbeitete sehr gut. Wer das aufnehmen konnte, hat es getan.»

Ihm haben es die Flieger angetan, seit er acht Jahre alt ist, klebt Igor Petrow Modellflugzeuge zusammen. Der Klebstoff hat seine Nase ruiniert, man hört das, wenn er spricht. Jetzt sind es 75 Jahre. Das Datum ist seit Monaten allgegenwärtig, im Staatsfernsehen, auf Plakaten, sogar auf den Screens der Bankautomaten steht die rote 75 und darunter «Pobeda!» – Sieg.

Jets fliegen über Moskau

Wäre die Siegesparade nicht verschoben, würde Igor Petrow hingehen. 15’000 Soldaten sollten dieses Jahr marschieren, alte und die allerneuste Kriegstechnik, Panzer und Raketen durch die Strassen fahren. Immerhin, eine Flugschau wird es noch geben. In den vergangenen Tagen waren Jets über Moskau zu sehen, sie flogen in Formation einer 75.

Kein Datum ist der russischen Bevölkerung so wichtig wie der 9. Mai. Der Sieg über Nazideutschland vermag, was kein anderes historisches Ereignis schafft: Es eint die russische Gesellschaft über alle Brüche, Regionen, Volksgruppen, Konfessionen hinweg, arm und reich, Kommunisten und Konservative. Gegen die Nazis haben alle gemeinsam gekämpft. Das macht den Tag für Wladimir Putin so wertvoll.

Die Kampfjets sind das Einzige, was von der geplanten Militärparade übrig geblieben ist: Übungsflug über Moskau am 4. Mai.

Der Kreml hat das Gedenken an den «Grossen Vaterländischen Krieg» fest im Griff. Dem Präsidenten geht es um den Triumph, Russland leitet davon bis heute seinen Anspruch auf eine Weltmachtrolle ab. Die Menschen verbindet der Verlust. Mindestens 27 Millionen Opfer forderte der Krieg von den Ländern der Sowjetunion. Jede Familiengeschichte hat ihr Kriegskapitel, fast jeder hat jemanden verloren.

Vor einigen Jahren begannen die Bewohner der sibirischen Stadt Tomsk, Fotos gefallener Familienangehöriger durch die Strassen zu tragen. Sie nannten diese nicht staatliche Aktion das «Unsterbliche Regiment», inzwischen gibt es sie in mehreren Städten. Längst kontrolliert der Kreml die Initiative. Mehr noch: Er vereinnahmt sie. In den vergangenen Jahren marschierte Wladimir Putin selbst mit einem Foto seines Vaters mit. Die Datenbank des Verteidigungsministeriums bringt die Gefallenen nun ins Internet, digitalisiert die Fotos, die auch bei den Umzügen hochgehalten werden.

Man folge damit dem Auftrag des Präsidenten «zur Vervollkommnung der Massnahmen zur Verewigung der Erinnerung an jene», so steht es auf der Seite des Onlinearchivs, «die bei der Verteidigung des Vaterlandes umgekommen sind». Auch wenn die Sammelstellen geschlossen sind, kann man die Heldendatenbank online weiter füttern. Sie zählt bereits 31’523’539 Einträge.

Eine Generation ohne Väter

Waleri Fedorischtschew hatte es noch vor Corona ins Museum geschafft. Er sitzt dort auf der Bank, Schulkinder toben um ihn herum. Mützen fliegen durch die Luft. Waleri Fedorischtschew sitzt auf der Holzbank und weint. Auf seinem Schoss liegt eine gelbe Mappe, zwei Bescheinigungen stecken darin, beide von 1943. Eine über die Tapferkeitsmedaille, die andere bestätigt, dass der Vater als vermisst gilt. Er wischt die Tränen unter der Brille hervor. «Ich habe nie jemanden Papa genannt.» Auf dem Foto, das er mitgebracht hat, ist sein Vater Grigori, ein Coiffeur, 40 Jahre alt. Er trägt Uniform, hat die Haare zurückgekämmt, lässt die Schultern hängen. Das Bild hat Farbflecken.

Der Sohn, der im Juni 79 wird, erzählt vom Abschied vor 78 Jahren. Der Vater musste nach einer Verletzung zurück an die Front. Es lag Schnee, ein Pferdeschlitten holte ihn ab. Bevor der Soldat einstieg, umarmte er seinen einjährigen Sohn und dessen Mutter. Dann fuhr er los, der Schlitten wurde kleiner und kleiner. Bis der Vater plötzlich heraussprang, zurückgelaufen kam und den Jungen noch einmal in den Arm nahm. Als hätte er gewusst, dass er nicht zurückkommt, so hat die Mutter ihm die Geschichte erzählt.

Sie hat nie aufgehört, auf ihren Mann zu warten. Es ist eine vaterlose Generation, die auf dieser Museumsbank sitzt. «Mein ganzes Leben hatte ich das Gefühl, dass ich etwas vermisse. Auch jetzt», sagt einer, der das Grab seines Vaters nicht finden kann.

Die ganze Familie verloren

Jetzt warten die Veteranen darauf, dass die Corona-Massnahmen gelockert werden, dass sie rausdürfen und den «Weg der Erinnerung» besuchen. Diesen Weg gibt es nämlich nicht nur im Internet. Das Verteidigungsministerium hat den Veteranen einen Tempel gebaut, buchstäblich. Die Hauptkathedrale der russischen Streitkräfte sollte ursprünglich am Siegestag eingeweiht werden, sie ist in dunklem Grün gehalten, mit goldenen Kuppeln. Drumherum führt ein überdachter Gang wie durch einen barocken Garten, verspiegelte Scheiben, vergoldeter Stuck. 1418 Schritte ist der Weg lang, ein Schritt für jeden Kriegstag. An den dunklen Wänden sind die Fotos zu sehen. Auch das von seinem Vater, hofft Waleri Fedorischtschew.

In Wera Maximowas Familie gibt es drei Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg.

Wera Maximowa brachte ihre Unterlagen in einer Tüte mit Blumenmuster ins Museum. Sie sitzt auf der Bank, eine Stunde, zwei Stunden, füllt die Fragebögen mehrfach aus, bis alles perfekt ist. Drei Veteranen gab es in ihrer Familie, den Vater, den Stiefvater und ihre Mutter. Wera Maximowa weiss gar nicht, was sie mit den vielen Medaillen anfangen soll. Es gibt niemanden, an den sie sie weitergeben könnte.

Aus der Tüte zieht sie das einzige Foto, das sie von ihrem leiblichen Vater besitzt. Mehr konnten sie nicht mitnehmen, auf der Flucht aus ihrem Heimatdorf im Woronesch-Gebiet. Sie hat auch einen Zeitungsartikel dabei, den ihre Mutter vor fünf Jahren geschrieben hat. Darüber, wie sie selbst Schützengräben aushob. Die Männer kamen nicht nach Hause zurück, aber der Feind rückte näher. Die Frauen haben Partisanen vor den Nazis versteckt. Im Winter 1942 kam Wera Maximowa in einem ungeheizten Krankenhaus zur Welt, wenige Kilometer von der Front. Die Mutter hat Hand und Füsschen des Babys auf Papier umrissen und ihrem Mann geschickt.

Kurz danach kamen die Deutschen ins Dorf. «Viele wurden hingerichtet. Auch die Freundin meiner Mutter. Man hat die Haut von ihrem Körper abgerissen», erzählt jetzt Wera Maximowa und zupft an ihrer rosa Mütze. Die Mutter verlor ihre gesamte Familie: Der Vater fiel bei Moskau, der Ehemann bei Charkow, der Onkel in Nowgorod, dessen Frau und drei Kinder wurden in einem Keller erschossen. Nach dem Krieg mussten die Menschen Eicheln und Gras essen, um nicht zu verhungern. Die Felder waren voller Minen, schreibt die Mutter. Den Vater hat die Tochter nie gesehen. Aber er bat seine Frau, sie Wera zu nennen, Glaube. Er meinte den Glauben an den Sieg.