Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

10’000 Neuinfizierte pro Tag
Russland hat das Schlimmste noch vor sich

Spitäler wurden zu Infektionsherden: Medizinisches Personal in St. Petersburg. (EPA/ANATOLY MALTSEV)
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Anfang Mai fällt der Hausarrest in Russland besonders schwer. Ein Feiertag reiht sich an den nächsten, der Tag der Arbeit und des Frühlings, der Siegestag. Doch statt draussen auf Picknickdecken zu sitzen, sind viele Russen weiterhin in Isolation. Die Moskauer dürfen seit fünf Wochen nur in Ausnahmefällen raus. Spazieren gehen, sei es nur für eine Stunde, gehört nicht dazu.

Durchhalten, darauf hat Wladimir Putin die Russen vor den Maifeiertagen eingeschworen. Es stehe nun «die intensivste Phase» der Epidemie bevor, der Höhepunkt liege laut Experten «immer noch vor uns». Zwei Tage später meldete sich Premierminister Michail Mischustin per Videoschalte beim Präsidenten, er sei positiv auf Sars-CoV-2 getestet worden. «Das kann jedem passieren», antwortete Putin wie zur Warnung.

Am Samstag schrieb Moskaus Bürgermeister Sergei Sobjanin in seinem Blog, dass wohl mindestens zwei Prozent der 12,5 Millionen Moskauer infiziert seien. Das wären etwa 250’000 Menschen, weit mehr als die offizielle Statistik ausweist. Demnach gibt es 135’000 Infizierte in Russland, 69’000 davon in der Hauptstadt.

Gesundheitssystem ist überfordert

Egal, welche Zahlen stimmen, das Gesundheitssystem scheint bereits überfordert zu sein. Immer mehr Ärzte, Krankenschwestern und Sanitäter wenden sich an die Medien, häufig anonym. Manche nehmen Videos auf und beklagen darin, dass Schutzkleidung fehle, sie nicht getestet würden, Kollegen erkrankten. Weil sich Ärzte selbst nicht vor Ansteckung schützen können, sind Spitäler zu Hauptinfektionsherden geworden. Kliniken wurden abgeriegelt, in Moskau, Sankt Petersburg, Ufa, Komi.

Patienten, die entlassen werden sollten, dürfen nicht Hause, Ärzte müssen über Wochen dort ausharren. Bereits Mitte März habe es Signale gegeben, dass medizinisches Personal nicht ausreichend geschützt werde, sagt Andrei Konowal von der Gewerkschaft Dejstwie. Die Mitarbeiter «werden entweder krank oder kündigen».

Putin gesteht ein, dass Masken, Atemgeräte und Schutzanzüge nicht reichen.

In Ufa wendeten sich Ärzte per Video öffentlich an die Regierung und forderten eine Untersuchung. Die Klinikleitung, so vermuten sie, habe zu spät auf den Ausbruch reagiert und das Spital so zum Infektionsherd für die gesamte Region werden lassen. In Sankt Petersburg wurde, neben anderen Kliniken, das orthopädische Wreden-Spital mit 800 Betten unter Quarantäne gestellt. Die Onlinezeitung «Fontanka» beschrieb die Klinik als «harte Version der Diamond Princess», des Kreuzfahrtschiffs mit Hunderten infizierten Passagieren vor der Küste Tokios.

Dmitri Ptaschnikow leitet im Wreden-Spital die chirurgische Abteilung, er operiert Wirbelsäulen. Aus der Quarantäne hat er ein Instagram-Videotagebuch geführt. In seiner Abteilung, die mit Infektionskrankheiten sonst wenig zu tun hat, harrten 32 Patienten und 10 Mitarbeiter aus. «Alle Mitarbeiter sind heute krank», sagt er im Video vom 20. April. «9 von 10 haben eine Lungenentzündung.»

Auch ein Dutzend Patienten seien an Lungenentzündung erkrankt. Ptaschnikow sagt, dass die Schutzmittel nicht reichten, aber auch nicht nützten, solange Kranke und Nichtkranke eine Abteilung teilten. «Wir kochen hier in unserem eigenen Saft.

An Covid-19 erkrankt: Premier Michail Mischustin meldet sich per Videoschaltung bei Präsident Putin ab.

Die Behörden wissen, dass die Klagen berechtigt sind. Bei seiner letzten Videokonferenz mit den Gouverneuren zählte Putin zwar auf, wie viele Masken, Atemgeräte und Schutzanzüge inzwischen produziert worden seien. Er gestand aber auch ein, dass das nicht ausreiche. Sein Sprecher Dmitri Peskow hatte Ärzte und Pfleger gewarnt, sich nicht an die Medien zu wenden, sondern an die offiziellen Stellen, wenn etwas fehlt.

Es fehlt offenbar überall. Eine Moskauer Krankenschwester berichtet in einem Video, dass sie gekündigt habe – genauso wie etwa ein Dutzend Kolleginnen. Im Infektionsspital Kommunarka fühlten sie sich nicht ausreichend geschützt und unterbezahlt. Im Woronesch-Gebiet klagte ein Rettungssanitäter über das Facebook-Pendant V-Kontakte, dass er ohne Schutzkleidung zu fiebernden Patienten geschickt würde.

Medizinstudenten helfen aus

Später berichtete der Rettungssanitäter dem Magazin «Meduza», dass ihn daraufhin die Polizei besucht habe – weil er angeblich Falschnachrichten verbreite. Auch in Moskau klagen Mediziner in Rettungswagen über fehlende Schutzkleidung und darüber, wie die Mannschaften der Wagen ausdünnen. Manche berichten, dass sie schon Patienten wieder nach Hause bringen mussten, weil kein Klinikbett frei war.

Im Gesundheitswesen wurde viel eingespart in den letzten Jahren. Allein zwischen 2013 und 2019 ist der Nachwuchs an medizinischem Personal gemäss der Zeitung «Wedomosti» um mehr als die Hälfte gekürzt worden. Seit 1. Mai sollen Medizinstudenten in den Kliniken aushelfen, egal, ob sie Zahn- oder Kinderärzte werden wollen. Zudem sollen in Moskau provisorische Spitäler entstehen, in einem Autohaus, auf einem Messegelände. Anfang April hatte Bürgermeister Sergei Sobjanin 20’000 Betten für Covid-19-Patienten versprochen. Nun sagte er, dass bereits 17’000 Infizierte in Moskauer Kliniken lägen.

Das Lügen aufgeben

In einer dieser Kliniken arbeitet Alexei Erlich, derzeit sitzt der Kardiologe in Quarantäne zu Hause. Als seine Klinik offiziell für Corona-Patienten geöffnet wurde, war er bereits infiziert. Ärzte und Patienten müssten gleichermassen geschützt werden – nicht nur in Kliniken, die offiziell für die Behandlung von Covid-19-Patienten zuständig seien, sagt er. Eines gelte ohnehin für alle Regionen: «Man darf Corona-Fälle nicht verheimlichen. Man muss das Lügen aufgeben.» Erlich und andere Ärzte veröffentlichen im Internet die Namen der Kollegen, die im Zusammenhang mit der Pandemie gestorben sind: Auf der Liste stehen bereits 85 Namen.