Papablog: FamilienlesenKeine Lust zum Vorlesen? Gibts nicht!
Blogger Nils Pickert kann sich ein Familienleben ohne Geschichten nicht vorstellen – und sinniert über seine eigene kindliche Faszination für Bücher.
«Und wenn das mit dem neuen Buch nicht klappt, gehen wir einfach auf die Strasse. Ich singe, du tanzt.» Eigentlich hatte ich vor, dieses «Was ist die nächste Zeit so alles zu stemmen/Und bei dir so?!»-Gespräch mit meiner Lebenskomplizin alleine zu führen. Aber meine Fünfjährige, die morgens «aus Versehen» und «leider» gar nicht hören kann, dass wir gleich losmüssen, hat in drei Metern Entfernung natürlich alles mitbekommen, was wir leise miteinander besprochen haben. Nicht überrascht sein, das muss so sein.
Ich nenne das «interessengeleitetes Hörvermögen». Damit können Sie beispielsweise auch testen, ob sich eins Ihrer Kinder irgendwo in Hörweite befindet. Einfach mal wahlweise «Süssigkeiten», «Sackgeld» oder «Ferien» halblaut vor sich hinsagen und Sie wissen, wer noch alles da ist. Aber Vorsicht: Kann zu vermehrtem Süssigkeitenkonsum, verstärktem Geldtransfer und langwierigen Urlaubsrecherchen führen.
Warum Vorlesen in unserer Familie ein grosses Ding ist
Momentan testet mich allerdings meine kleine Tochter: Sie hat ein Zitat aus dem Buch benutzt, dass ich ihr gerade zu Ende vorgelesen habe und will wissen, ob ich mich daran erinnere. Natürlich tue ich das – ich habe es ja gerade erst vorgelesen. Ausserdem habe ich für unsere Familie die häufigen Zitateinbettungen und ständigen Referenzen quasi erfunden. Während meine Tochter entlang der «13½ Leben des Käpt'n Blaubär» überlegt, ob sie mich nicht an einen Zoo verkaufen sollte, um mich dann nachts mit einem Nachschlüssel zu befreien, überlege ich, wie und warum das alles eigentlich angefangen hat. Und warum ist (Vor)Lesen in unserer Familie eigentlich so ein grosses Ding, dass ich es sogar mit einiger Freude auf mich nehme, das allabendliche momentane Lieblingskurzbuch meiner Tochter jedes Mal mit einem noch absurderen Namen zu lesen. Oder ernsthaft ihre Idee in Erwägung ziehe, ihr das Buch zumindest einmal komplett rückwärts vorzulesen.
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Wahrscheinlich ist es meine eigene kindliche Begeisterung für das Lesen. Ich bin wie gelegentlich erwähnt in der DDR aufgewachsen, bis kurz vor meinem 10. Geburtstag dann die Mauer fiel. Ich habe durchaus auch schöne DDR-spezifische Erinnerungen an meine Kindheit, aber über allem und allen liegt das unmissverständliche Gefühl des Eingesperrtseins und ein Grundimpuls zur Bewegung, zur Flucht. Grosse Teile meiner Kindheit habe ich damit verbracht, mit meinem besten Freund aus Schrott vollkommen untaugliche Fluchtvehikel zu konstruieren. Oder eben mit Büchern. Mit Büchern, die mir meine Mutter besorgte, weil sie wusste, wie gerne ich mich in ihnen aufhielt.
Bücher und Geschichten waren mir immer ein Zuhause und ersetzten mir den Teil meiner Heimat, den ich schwer erträglich fand.
Ich wollte in einer Litfasssäule wohnen wie meine Heldin Bibi (was mir zeitweise am Berliner Kollwitzplatz auch gelang) und eine Haarschleife haben, mit der mich der Wind über Flüsse und eben Mauern trägt wie meine Heldin Tuppi Schleife (was mir leider nie gelang). Ich versank in Märchen aus fernen Ländern über Berge aus Glas und Zaubervögel. Ich mochte Gedichte von Menschen, die über das Reisen schreiben. Bücher und Geschichten waren mir immer ein Zuhause und ersetzten mir den Teil meiner Heimat, den ich schwer erträglich fand. Leute, die sich in diesem Zuhause aufhalten, gehören zu mir.
Vermutlich habe ich deshalb meine Kinder so überdeutlich dahin eingeladen. In diese Welt voller Geschichten, Zitate, Andeutungen und Insider. Das hat unter anderem zur Folge, dass meine Jüngste und ich jetzt regelmässig «Lügenduelle» austragen, die andere Familienmitglieder mit Punkten bewerten. Das wird wohl auch zur Folge haben, dass ich sehr bald und unter nicht unerheblichen mentalen Verrenkungen «Ruesirf mieb Essin» vorlesen werde. Aber das ist es mir allemal wert.
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