Wie lässt sich der Crash des Gesundheitssystems verhindern?
Die Krankenkassenprämien werden stetig teurer, immer mehr Versicherte zahlen nicht, viele Kantone knausern. Was nun? BAG-Direktor Pascal Strupler will ein «Loch in die Wand» schlagen.
Herr Strupler, immer mehr Krankenversicherte in der Schweiz zahlen ihre Prämien nicht. Wollen diese Menschen nicht – oder können sie nicht?
Beides kann vorkommen. Fakt ist aber, dass im Gesundheitswesen ein Kostenanstieg stattfindet, der sich auf die Prämien überträgt – und dass parallel dazu die Zahl der säumigen Prämienzahler steigt. Es ist unbestritten, dass die Belastung bei den unteren und mittleren Einkommen eine kritische Grenze erreicht hat.
Wer wirtschaftlich nicht in der Lage ist, seine Rechnungen zu zahlen, sollte in der Schweiz eigentlich durch Prämienverbilligungen entlastet werden. Dieses System versagt offensichtlich.
Jährlich werden über vier Milliarden Franken für Prämienverbilligungen eingesetzt. Der Beitrag des Bundes beläuft sich jährlich auf 7,5 Prozent der Bruttokosten der obligatorischen Krankenkasse. Die Kantone legten früher nochmals ebenso viel oben drauf – seit 2008 können sie jedoch selber festlegen, wie viel sie beisteuern wollen. Wir stellen mit Besorgnis fest, dass seither viele Kantone weniger Prämienverbilligungen ausschütten. Das bleibt natürlich nicht ohne Folgen.
Die Kantone knausern also bei den Prämienverbilligungen. Warum klopft ihnen niemand auf die Finger?
Moment! Erstens knausern nicht alle Kantone. Und zweitens findet derzeit eine gewisse Korrektur statt. Vor einem Jahr hat das Bundesgericht den Kanton Luzern gerügt, weil er bei den Prämienverbilligungen für Kinder und junge Erwachsene die Einkommensgrenze zu tief angesetzt hatte. Wir stellen fest, dass das Urteil eine gewisse Signalwirkung hat und auch andere Kantone ihre Praxis noch einmal überdenken.
«Die Einsicht hat sich durchgesetzt, dass wir ein Loch in die Wand schlagen müssen, damit wir wieder Licht am Horizont sehen.»
Sie sagten vor einiger Zeit: «Wenn wir jetzt nichts unternehmen, besteht die Gefahr, dass wir unser Gesundheitssystem an die Wand fahren.» Wie lange dauert es noch bis zum Crash?
Ich stehe zu meiner Aussage – und doch glaube ich, dass sich inzwischen massgeblich etwas verändert hat. Die Einsicht hat sich durchgesetzt, dass wir ein Loch in die Wand schlagen müssen, damit wir wieder Licht am Horizont sehen. Die politischen Akteure und die Stakeholder sind gewillt, ernsthaft an einer Kosteneindämmung zu arbeiten. Das war nicht immer so.
Sie spielen auf das Kostendämpfungsprogramm des Bundes an, das demnächst ins Parlament kommt?
Ja, primär. Eine internationale Expertengruppe hat zahlreiche Massnahmen erarbeitet, welche das Potenzial haben, im Gesundheitsbereich viele hundert Millionen Franken einzusparen. Davon versprechen wir uns einiges.
Auch mehrere Volksinitiativen zum Thema sind in der Pipeline. Die SP will die Prämienbelastung pro Haushalt auf maximal zehn Prozent des Einkommens deckeln. Alles, was darüber hinausgeht, soll durch Prämienverbilligungen abgefangen werden. Eine gute Idee?
Die Initiative wird sicher eine fruchtbare Debatte über die Prämienverbilligungen auslösen. Dem Positionsbezug des Bundesrats zur Initiative möchte ich nicht vorgreifen.
«Vielleicht überzeugen unsere Vorschläge die Initianten ja so sehr, dass sie darüber nachdenken werden, ihre Kostenbremse-Initiative zurückzuziehen.»
Ursprünglich lautete das erklärte Ziel des Bundesrats: Kein Haushalt soll über acht Prozent seines Einkommens für die Prämien aufwenden. Das war in den 90er-Jahren. Heute fressen die Prämien im Schnitt schon 14 Prozent des Haushaltseinkommens weg. Und vermutlich wird dieser Anteil noch weiter steigen.
Ohne Gegenmassnahmen ist das wohl bei den unteren und mittleren Einkommen so. Wir sind aber überzeugt, dass es mit unserem Kostendämpfungsprogramm gelingen wird, das Prämienwachstum zumindest zu bremsen. Nun ist das Parlament gefordert. Eines der Hauptziele besteht darin, unnötige medizinische Behandlungen zu vermeiden. Die Generikapreise müssen sinken. Weiter ist ein Experimentierartikel geplant, der es erlaubt, innovative Projekte ausserhalb des normalen gesetzlichen Rahmens zu testen – etwa in Form neuer Versicherungsmodelle.
Eine Kostenbremse verlangt auch die CVP in ihrer Volksinitiative. Sie fordert, dass die Prämien nicht mehr stärker steigen dürfen als die Löhne. Ist das realistisch?
Wir müssen ehrlich sein: Es wird enorme Anstrengungen aller Akteure brauchen, um das Kostenwachstum in den Griff zu bekommen. Da die Kosten im Moment deutlich schneller wachsen als die Löhne, scheint es mir sehr ambitioniert, diese Vorgabe zu erfüllen. Und die CVP sagt in ihrem Initiativtext ja nicht, wie sie das anstellen will. Die Vorschläge in unserem Paket sind hingegen sehr konkret. Vielleicht überzeugen sie die Initianten ja so sehr, dass sie darüber nachdenken werden, ihr Begehren zurückzuziehen.
Ein weiteres Initiativprojekt stammt von SVP-Frau Yvette Estermann. Ihr schwebt eine «Krankenkasse light» vor, mit tiefen Prämien und beschränktem Leistungskatalog. Krebspatienten bekämen beispielsweise keine teuren Chemotherapien bezahlt.
Ein solches System würde dazu führen, dass Menschen in schwachen wirtschaftlichen Verhältnissen eine Light-Versicherung abschliessen würden – und dann im Falle einer schweren Erkrankung ohne Schutz dastünden. Es würde eine Zweiklassengesellschaft entstehen, die nicht zur Schweiz passt.
«Die Medikamente sind teilweise so teuer, dass die Sozialversicherungen sie unmöglich allen Patienten unbeschränkt werden bezahlen können.»
Allerdings stellt sich auch in unserem aktuellen System die Frage, wer welche Behandlung erhält. In den Schlagzeilen ist derzeit etwa eine Gentherapie von Novartis, bei der eine einzige Spritze über zwei Millionen Franken kostet. Wer soll das bezahlen?
Diese Frage beschäftigt uns in der Tat sehr stark. Nehmen Sie die neuen Kombinationstherapien für Krebspatienten: Diese Medikamente können bei Erkrankten über Leben oder Tod entscheiden. Doch sie sind teilweise so teuer, dass die Sozialversicherungen sie unmöglich allen Patienten unbeschränkt werden bezahlen können. Das kann sich die Allgemeinheit schlicht nicht leisten.
Es stellt sich die unbequeme Frage, was ein Leben kosten darf.
Richtig, wir kommen nicht umhin, eine gesellschaftliche Debatte darüber zu führen. Wir stehen diesbezüglich in Kontakt mit der nationalen Ethikkommission. Auf der wirtschaftlichen Seite versucht das BAG derzeit in langwierigen Diskussionen mit der Pharma, zu vernünftigen Preisen zu kommen. Zentral dabei ist aber auch, dass die Betroffenen möglichst rasch Zugang zu neuen Medikamenten erhalten.
Aktuell hält das Coronavirus die BAG-Experten auf Trab. Rund 20 Schweizer sind in Quarantäne. Was bedeutet das für die Betroffenen?
Diese Menschen haben bereits eine mühsame Rückreise hinter sich. Es ist sicher eine Belastung, nun noch 14 Tage in Quarantäne zu verbringen. Sie sind in verschiedenen Kantonen zumeist bei sich zuhause untergebracht.
Worauf bereiten Sie sich vor? Ist ein Szenario mit Zehntausenden von Erkrankten ausgearbeitet?
Es gibt keine fixfertigen Szenarien. Wir müssen anpassungsfähig sein, weil es das Virus eben auch ist. Aber die Schweiz, genauso wie die WHO, hat aus früheren vergleichbaren Fällen Lehren gezogen. Wir haben einen Pandemieplan und ein Epidemiengesetz, das festlegt, wer welche Rolle zu spielen hat. Die Verantwortlichen in den Kantonen, in den Spitälern und an den Flughäfen sind extrem alert. Wir alle sind wesentlich besser vorbereitet, als wir es in einer vergleichbaren Situation vor zehn Jahren waren.
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