Jüdische Aktivistin im Interview«Wir selbst müssen es lösen, nicht die Europäer, nicht die UNO, nicht mal Biden»
Die Publizistin Avirama Golan hält eine Lösung des Konflikts mit der Netanyahu-Regierung für unmöglich und tadelt auch die selbsternannten Postkolonialisten. Aber sie hat noch Hoffnung.
Frau Golan, wie geht es Ihnen?
Mir persönlich gehts gut, aber die Lage in meiner Heimat ist schlimmer als in meinen schlimmsten Albträumen. Drei unserer vier Kinder, sechs unserer acht Enkelkinder leben in Israel. Sie haben alle Safe-Rooms in ihren Häusern – aber ich sorge mich nicht nur wegen der Raketen um sie. Sondern wegen des Hasses und des Traumas. Wie wird sie das prägen? Sie sehen das Trauma in den Augen ihrer Eltern, spüren die Angst überall in den Strassen. Wie kann ich meinen Enkelkindern sagen, dass wir einen sehr bösen, grausamen Feind bekämpfen, indem wir andere Kinder töten?
Kann man das so sagen?
Unsere Regierung hat die Hamas finanziert, indem sie ihr via Katar viele Millionen Euro zur Beschwichtigung vermittelte – anstatt die palästinensischen Behörden zu unterstützen; es war eine Strategie, die Letzteren zu schwächen. Stattdessen gab es Geld für die Hamas, das in die Terrorpläne floss, zum Beispiel in die Tunnelbauten unter den Spitälern – und nun zerbomben wir die Spitäler. Es macht mich sprachlos. Wie wird das enden?
«Die israelische Gesellschaft zerbricht.»
2015 wurden Sie Co-Vorsitzende von Sikkuy, einer jüdisch-arabischen Organisation, die sich um Gleichberechtigung für alle Bürgerinnen und Bürger Israels bemüht. Alles vergebens?
Als Netanyahu mit seiner sechsten Regierung, die seit 2023 im Amt ist und von extrem rechten Kräften getragen wird, begann, die unabhängige Justiz zu untergraben, ging ich ständig demonstrieren. Die Stimmung schlug viel schneller ins Gewalttätige um, als wir gedacht hatten. Die israelische Gesellschaft zerbricht, der Hass sitzt so tief und ist so stark. Vergebens ist das Engagement aber nicht.
Doch Sie haben Ihren Hauptwohnsitz nach Griechenland verlegt.
Ja, aber wir sind sehr oft in Israel und engagieren uns weiter intensiv, etwa in der arabisch-jüdischen Graswurzelbewegung Standing Together; auch wenn ich meinen Sikkuy-Vorsitz abgegeben habe. Daher weiss ich auch, wie schlimm sich die Situation in den palästinensischen Gebieten vor dem Terroranschlag entwickelt hat.
Wie?
Die Gewalt der Siedler – und ich möchte das jetzt wirklich vorsichtig formulieren und nicht übertreiben – wurde tatsächlich monströs. Und es ist das erste Mal, dass die Regierung die Gewalt in den besetzten Gebieten nicht bloss toleriert, sondern befeuert hat. Gewalttätige Konflikte zwischen Siedlern und Palästinensern fanden fast täglich statt, und die Soldaten halfen stets den Siedlern. In der Regierung sitzen Extremisten, die das Militär seinerzeit nach einer geheimdienstlichen Überprüfung wegen ihrer Gesinnung abgelehnt hatte – ein Irrsinn!
In der Regierung?
Ausgerechnet der Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, wurde damals als zu gefährlich eingestuft. Unser Staat, der von Flüchtlingen des Rassismus und Nazismus gegründet wurde, hat nun Regierungsmitglieder, die mit europäischen Neonazi-Bewegungen und Rechtsextremen in Verbindung stehen. Und Netanyahu selbst ist nur noch mit dem Machterhalt beschäftigt und damit, dass er nicht wegen Korruption verurteilt wird; seine eigenen Söhne kämpfen nicht, sondern sind in Sicherheit, der eine in den USA, der andere in Grossbritannien. Aber …
… aber?
Das alles rechtfertigt in keiner Weise die terroristische Gewalt vom 7. Oktober. Kein einziges Gramm Schuld darf von der Hamas genommen werden, die eine mörderische Organisation ist, das Existenzrecht Israels bestreitet und das Recht des jüdischen Volkes auf einen eigenen Staat. Die Hamas ist brutal, sie hat den Israelis Leid zugefügt, und sie fügt den Palästinensern Leid zu.
«Die Regierung hat die Sicherheit und Stabilität Israels vor aller Augen ins Wanken gebracht.»
Wie meinen Sie das?
Die Hamas ist eine blutrünstige terroristische Organisation. Ihre Aktionen haben nichts mit der gerechtfertigten Forderung des palästinensischen Volkes nach einem eigenen Staat, nach Unabhängigkeit, Freiheit und einem guten Leben zu tun, sondern schaden der Bevölkerung massiv. Unsere Regierung wiederum war vorab vor den Umtrieben der Hamas gewarnt worden und hat nichts getan.
Wirklich?
Sie war damit beschäftigt, mit protofaschistischen Gesetzen die Unabhängigkeit der Justiz aufzulösen und die Linke zu verfolgen. Sie hat das Land geschwächt, den Zusammenhalt, die Sicherheit und Stabilität Israels vor aller Augen ins Wanken gebracht; der grosse Zaun war eine Alibiübung. Als die Attacke dann kam, hat man viel zu lang gewartet. Ich persönlich kenne einen General, der die Eigeninitiative ergreifen musste, um seinen Sohn, einen «Haaretz»-Journalisten, dessen Frau und seine zwei Enkelkinder zu retten. Sie sassen im Bunker in einem Kibbuz in der Nähe des Gazastreifens, waren sieben Stunden lang mucksmäuschenstill; kein Flüstern, kein Pinkeln. Dann kam der Opa mit seinen Soldaten und befreite sie.
Manche europäische und amerikanische Linke sehen in den aktuellen Ereignissen vor allem einen Widerstand gegen das kolonialistische Israel.
Ich war nun lange Mitglied der progressiven Demokratiebewegung DiEM25 (Democracy in Europe Movement 2025) von Yanis Varoufakis, dem ehemaligen griechischen Finanzminister. Am 7. Oktober sagte er, er sehe die Schuld nicht bei der Hamas, sondern bei Europa. Ich bin sofort aus DiEM25 ausgetreten. Es stimmt, der Westen hat Fehler gemacht: Das Leiden im Gazastreifen und in den besetzten Gebieten wurde ignoriert und auch das Geld, das an terroristische Organisationen floss. Man kann mit ganzem Herzen gegen die Besetzung, die Siedlungen, die Ungerechtigkeiten gegenüber dem palästinensischen Volk kämpfen, darf dabei aber auf keinen Fall die Verbrechen der Hamas ausblenden!
«Genau das ist kolonialistisch, zu unterstellen, die Eingeborenen seien eben so schwach, so dumm.»
Liegen solche Postkolonialisten falsch?
Es gibt nicht nur eine Seite der Geschichte, Israel ist nicht total einfach böse und die Palästinenser gut. Die meisten würden einfach gern friedlich ein normales Leben führen. Wer, wie etliche Progressive – die den Gazastreifen oft nicht mal auf einer Karte finden können –, behauptet: Die armen Palästinenser, sie waren so schwach, sie hatten keine andere Wahl, als die Hamas zu unterstützen, sie sind die Opfer des Kolonialismus, der irrt. Genau das ist nämlich kolonialistisch, von oben herab zu unterstellen, die Eingeborenen seien eben so schwach, so primitiv, so dumm. Als seien sie kleine Kinder, die die Zusammenhänge nicht verstehen. Zudem fehlt die historische Perspektive.
Inwiefern?
Israel wurde von Flüchtlingen, Überlebenden des Holocausts, gegründet, die in Europa keinen Platz fanden – nicht von Kolonialisten. Mein Freund Amos, der verstorbene Schriftsteller Amos Oz, erinnerte oft an folgende Paradoxie: «Sie haben uns immer gesagt: ‹Verlasst Europa, ihr seid nicht europäisch, besorgt euch einen eigenen Staat.› Dann haben wir einen gefunden, und sie sagten: ‹Haut ab, ihr seid nicht aus dem Nahen Osten, ihr seid Kolonisten.›» Amos hatte so einen tollen Humor, um bittere Wahrheitspillen zu versüssen. Aber diese Pille ist sehr bitter. Trotzdem ist es einfach unglaublich, den Terror von heute mit dem Holocaust gleichzusetzen, wie es der israelische Botschafter bei seinem Auftritt im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit seinem gelben Stern getan hat.
Was sollte das Ausland tun?
Wir haben gelernt: Das Schicksal der Juden und der Palästinenser im Nahen Osten ist unauflöslich verflochten. Ein Amalgam. Wir sind da zusammen drin. Wir selbst müssen es lösen, nicht die Europäer, nicht die UNO, nicht mal der gute, alte Biden – nur wir. Er ist ein reizender Mann, ein sympathischer Staatschef und hat jetzt so viele Probleme, weil die progressiven jüdischen Studierenden ihn nicht wählen wollen, da er Israel unterstützt. Wie verrückt ist die Welt?
Haben Sie noch Hoffnung?
Trotz allem: Ja, ich habe noch Hoffnung. Wo wären wir ohne sie? Vor allem ist in den vielen Demonstrationen dieses Jahres eine zivilgesellschaftliche Solidarität entstanden, die hält. Während die Regierung völlig versagt, sind es Menschen aus diesem Umfeld, die den Flüchtlingen jetzt helfen, egal, ob sie palästinensisch oder jüdisch sind. Sie setzen sich konkret ein. Netanyahu muss weg, das ist klar. Er ist in Wahrheit gegen eine 2-Staaten-Lösung. Und es wird Jahre dauern, bis sich das Land von seiner Spaltung erholt hat. Aber schauen Sie sich Grossbritannien und Irland an. Oder Ruanda. Die schlimmsten Konflikte fanden irgendwann ein Ende.
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