Übergriffe im WestjordanlandRadikale Siedler vertreiben Beduinen mit Gewalt und Folter
Seit dem Überfall der Hamas auf Israel nehmen Angriffe auf Palästinenser im Westjordanland zu. Hunderte sind bereits geflohen – wie die Grossfamilie Nayef.
Im Schatten eines Zeltes hat Familie Nayef Teppiche und Matratzen auf den sandigen Boden gelegt und serviert Tee. Das Wasser holte sie aus einem rostig aussehenden Tank, den sie mehrere Kilometer entfernt auffüllen kann. Den Strom zum Kochen liefert ihr ein Solarpanel, das an einem Baum lehnt; nebenan suchen eine Herde aus zwei Dutzend Schafen und zwei Esel nach Gras.
Das ist seit drei Wochen das neue Zuhause der Grossfamilie mit sechs Erwachsenen, drei Teenagern und acht Kindern. «Wir haben nicht sehr viel mehr als das, was wir auf dem Leib tragen, mitnehmen können», sagt Abu Nayef, das 65-jährige Familienoberhaupt.
Zwei Dutzend Siedler sind in das Dorf eingefallen
Am 12. Oktober, fünf Tage nach den Terrorattacken der Hamas auf Israel mit 1400 Toten, sind Soldaten und rund zwei Dutzend jüdische Siedler in das Dorf Wadi al-Seeq eingefallen. Die Israelis haben den Bewohnern eine Stunde Zeit gegeben, um zu verschwinden. «Wir sind ins Auto gesprungen und sind auf und davon», sagt Abu Nayef.
Ein Bekannter habe ihm und seiner Familie diesen Flecken Land in der Nähe des Ortes Rammun zur Verfügung gestellt, drei Kilometer Luftlinie vom bisherigen Zuhause entfernt. Der Weg zum neuen Zuhause ist mit tiefen Schlaglöchern übersät, die sich nach einem Schauer mit Wasser und Schlamm gefüllt haben.
Abu Nayef, sonnengegerbtes Gesicht, Palästinensertuch um den Kopf geschlungen, ist Beduine. Er zieht aber schon lange nicht mehr in der Wüste herum, sondern ist seit rund 40 Jahren sesshaft in Wadi al-Seeq, wo zuletzt 38 Familien mit rund 200 Personen lebten. Hier, etwa 13 Kilometer von Ramallah entfernt, hatten sie sich in ihren Blechhütten und einfachen Häusern eingerichtet, auf den umliegenden Feldern haben sie Weideplätze für die Tiere gefunden. Abu Nayef hat sogar mehrere Jahre als Chauffeur gearbeitet.
Mit der neuen Regierung kamen die Probleme
Die Probleme, so schildert er, hätten im Februar begonnen – einen Monat nach Amtsantritt der rechtsreligiösen Regierung (lesen Sie hier eine Analyse zur Regierung Netanyahu). In Wadi al-Seeq beobachteten sie mit Sorge, wie ein bekanntes Mitglied der radikalen Siedlerbewegung einen Aussenposten oberhalb des Ortes baute. Denn ein Aussenposten ist meistens die Vorhut, ehe eine fixe Siedlung errichtet wird. Dann wurden die Beduinen nach und nach von Weideflächen und Wasserquellen abgeschnitten, Tiere verschwanden plötzlich. Einmal wurde ein Junge aus der Gemeinschaft von dem Siedler geschlagen, wie Abu Nayef berichtet. Als er dazwischenging, habe er auch einen Schlag abbekommen.
Viel heftiger ging es am 12. Oktober zu, als die Siedler, teilweise vermummt und in Uniform, in Begleitung der Armee auftauchten und die Räumung von Wadi al-Seeq befahlen. Weil die Spannungen absehbar waren, waren fünf israelische Aktivisten, die gegen Siedlungsaktivitäten eintreten, vor Ort und drei Vertreter der Autonomiebehörde, die bei Konflikten vermitteln und Übergriffe von Siedlern und der israelischen Besatzungsmacht dokumentieren.
Einer von ihnen, Mohammed Matar, schildert, was dann geschah: Während die Beduinen Habseligkeiten zusammenrafften, begann das, was er «Folter wie in Abu Ghraib» nennt. Zuerst seien ihnen Handy, Ausweis, Autoschlüssel und Geld abgenommen worden, dann die Kleidung. Anschliessend wurden den Palästinensern die Augen verbunden, sie wurden gefesselt und geschlagen. «Mit dem Stiefel traten sie gegen meinen Kopf, sprangen auf meinen Rücken», berichtet der 46-Jährige. «Als sie dann noch auf mir uriniert haben, habe ich ihnen gesagt: ‹Jetzt tötet mich lieber.›» Neun Stunden später sei ein Vertreter der palästinensischen Zivilverwaltung aufgetaucht, erst dann hätten die Peiniger von ihnen abgesehen, sagt Matar. Die israelischen Aktivisten wurden laut ihren Schilderungen drei Stunden nach ihrer Festsetzung wieder freigelassen.
Die Angreifer selbst teilten in sozialen Medien ein Bild mit dem Hinweis, sie hätten Terroristen gefangen. Darauf zu sehen sind drei Männer, die bis auf Unterhose und Socken nichts tragen, gefesselt und mit verbundenen Augen im Wüstensand sitzen oder liegen – deshalb Matars Vergleich mit Abu Ghraib. Die Bilder von Folterungen irakischer Häftlinge durch US-Soldaten lösten 2004 einen Skandal aus.
Die Spuren der Gewalt
Matar wurde zwei Tage lang im Spital in Ramallah behandelt, Fotos zeigen seine Verletzungen. Noch immer, mehr als drei Wochen später, sind Spuren der Gewalt deutlich zu sehen: Blaue Flecken im Gesicht, Striemen an den Oberarmen und Einkerbungen der Fesseln an den Handgelenken. «Ich habe um mein Leben gefürchtet, denn sie haben mir mit dem Tod gedroht und gesagt: Wenn ich leben will, soll ich nach Jordanien gehen», sagt Matar.
Rund 500'000 Siedler wohnen im Westjordanland und machen den mehr als zwei Millionen Palästinensern das Leben schwer. Sie leben laut UNO in rund 129 Siedlungen und 162 Aussenposten wie demjenigen bei Wadi al-Seeq, die über das Westjordanland verteilt sind. Seit Jahresbeginn sitzen Vertreter der Siedlerbewegung in der Regierung. Finanzminister Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir, Minister für nationale Sicherheit, sind ihre prominentesten Vertreter. Seither gibt es mehr Vorfälle, sagt Matar. «Abgesehen haben sie es vor allem auf Beduinen. Sie sind einfacher zu vertreiben als die Palästinenser in den Dörfern, und die Siedler wissen das», erklärt Guy Hirsch, einer der israelischen Aktivisten, die versuchen, Palästinenser durch ihre Anwesenheit zu schützen.
Aber die tätlichen Übergriffe nehmen zu, sagt der Palästinenser Matar. Das bestätigen Zahlen von OCHA, dem Büro der Vereinten Nationen zur Koordination humanitärer Angelegenheiten. 2023 war schon vor Kriegsbeginn am 7. Oktober das Jahr mit den meisten Todesopfern im Westjordanland seit der zweiten Intifada. 199 Palästinenser wurden bis dahin durch Einsätze der israelischen Polizei und der Armee oder durch Siedler getötet.
Nach Beginn des Kriegs haben sich die Angriffe der radikalen Siedler intensiviert, wie Matar sagt. «Vor dem 7. Oktober haben sie es auf Eigentum sowie auf Grund und Boden abgesehen, es gab immer wieder mal Übergriffe. Aber jetzt geht es um physische Gewalt. Es geht ihnen darum, Menschen umzubringen und die Kontrolle über das ganze Gebiet zu erlangen.»
Seit dem 7. Oktober sind die Todeszahlen gestiegen, zeigt die OCHA-Statistik. 132 Palästinenser wurden seither im Westjordanland getötet, davon 8 durch Siedler. Laut Angaben von OCHA mussten mindestens 607 Menschen ihr Land verlassen, in den 18 Monaten davor waren es 1100 gewesen.
«Wir zahlen den Preis dafür, was geschehen ist», sagt Abu Nayef und spielt damit auf den Überfall der Hamas auf israelische Orte entlang des Gazastreifens an. Nach Einschätzung israelischer NGOs nutzen die Siedler es aus, dass nun die Aufmerksamkeit auf dem Gazakrieg liegt. 30 israelische NGOs fordern in einer gemeinsamen Erklärung, die internationale Gemeinschaft müsse «die Welle der staatlich unterstützten Siedlergewalt stoppen». US-Aussenminister Antony Blinken sagte nach seinem Treffen mit Premierminister Benjamin Netanyahu, die israelische Regierung habe versprochen, dagegen vorzugehen.
Israelische Streitkräfte räumen Fehler ein
Israelische Sicherheitskräfte rechtfertigen die Razzien im Westjordanland damit, dass sie Terror verhindert haben. Nachdem die Zeitung «Haaretz» über die Misshandlungen der drei Palästinenser in Wadi al-Seeq berichtet hatte, gestanden die israelischen Streitkräfte Fehler ein. Das Verhalten der Einsatzkräfte stehe «im Widerspruch zu den Standards, die von Soldaten und Kommandanten erwartet werden». Der Kommandant, der den Einsatz leitete, sei aus dem Dienst entlassen worden und man habe eine Untersuchung eingeleitet.
Die Bewohner von Wadi al-Seeq können aber nicht zurückkehren, weil die Siedler die Zufahrt blockieren. Ausserdem haben sie Angst. «Ich habe der Polizei und der Armee mehrmals gesagt, dass sie uns schlagen. Aber nichts passiert. Sie respektieren kein Gesetz», sagt Abu Nayef. Seine Frau Aum Nayef mischt sich in das Gespräch ein und sagt: «Sie meinen, sie könnten alles mit uns machen. Alles.»
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