Gastbeitrag zum NahostkriegWelchen völkerrechtlichen Status hat Gaza?
Die Politik meidet die Frage nach dem Status des Küstenstreifens. Gründe sind nicht nur Schwierigkeiten einer rechtlichen Einordnung, sondern auch die Sorge vor einer Aufwertung der Hamas.
Vor zwei Jahren verlangte die Mitte-Nationalrätin Marianne Keller-Binder mit einem parlamentarischen Vorstoss Auskunft zum Konflikt Israel - Hamas. Eine ihrer Fragen lautete: «Ist die Hamas als staatliche Institution im Sinne der UNO oder als Vertreterin einer solchen zu betrachten?» Die Interpellantin befürchtete, durch die Gespräche des Bundesrates «mit allen Seiten» würde Israel als anerkannter Staat auf die gleiche Stufe wie eine Terrororganisation gestellt.
In seiner Stellungnahme verteidigte der Bundesrat seine «inklusive Kontaktpolitik» im Nahostkonflikt. Die Fragen nach dem Status der Hamas überging er.
Dramatisch gescheiterte Dekolonisation
Das Vermeiden einer völkerrechtlichen Einordnung der Hamas war kein Versehen des Bundesrats, ebenso wenig wie sein Stillschweigen zum Status des seit 2007 von der Hamas weitgehend selbstständig verwalteten Gazastreifens. Im Nachgang der bestialischen Verbrechen des 7. Oktober 2023 meiden Politik und auch die Fachwelt weiterhin klare Aussagen zur Frage, was Hamas und Gaza genau sind.
Wenn die Hamas qualifiziert wird, dann als Terrororganisation. Damit soll in erster Linie ein moralisches Unwerturteil zum Ausdruck gebracht werden. Die Frage nach dem internationalen Status Gazas bleibt offen. Man weicht auf Gemeinplätze aus, etwa, das humanitäre Völkerrecht sei von allen Konfliktparteien zu beachten und Kriegsverbrechen wären auf jeden Fall völkerstrafrechtlich zu ahnden.
Die völkerrechtliche Einordnung von Gaza ist tatsächlich schwierig. Unklar ist zunächst, was Palästina als Ganzes überhaupt ist. Historisch handelt es sich um Teile des einstigen britischen Mandatsgebiets, die nach 1948 nicht in den jüdischen Staat inkorporiert, später aber von Israel besetzt wurden. Das Westjordanland und Gaza sind Trümmer einer katastrophal gescheiterten Dekolonisation.
Weil Israel weiterhin grosse Teile der Westbank kontrolliert, vertreten manche auch heute noch die Auffassung, dass auf dem Gebiet Palästinas weder ein Staat Palästina noch ein De-facto-Staat existiere. Für sie sind die Westbank und Gaza «besetzte Gebiete» und die Hamas eine private Organisation. Am anderen Ende des Spektrums wird argumentiert, Palästina sei als Beobachterstaat bei der UNO sowie Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofs ein vollwertiger Staat.
Aus Sicht des Völkerrechts ist die Selbstregierung Gazas durch die Hamas seit 2007 wichtig.
Zwischen diesen beiden Eckpunkten kennt das Völkerrecht für sich selbst regierende Territorien jedoch auch den Status des De-facto-Staates oder De-facto-Regimes. Die synonymen Begriffe bezeichnen über längere Zeit bestehende staatsähnliche Gebiete ohne allgemeine internationale Anerkennung. Ziel einer solchen Qualifikation ist es, Akteure mit einem unklaren Status, aber einem von ihnen beherrschten Gebiet in die internationale Rechtsordnung zu integrieren.
Das Völkerrecht ist von seiner Entstehung her und in seinen Ausprägungen ganz vorrangig auf die Rechte und Pflichten von Staaten ausgerichtet, denn es ist bis heute deren Verhalten, das in erster Linie über Stabilität und Frieden entscheidet. Die Einbindung von De-facto-Staaten erlaubt es, diese für Verletzungen des Völkerrechts zur Verantwortung zu ziehen, die ihnen zurechenbar sind. De-facto-Staaten unterstehen zudem wie die Staaten dem internationalen Gewaltverbot.
Aus Sicht des Völkerrechts ist deshalb die dauerhafte – zumindest relative –Selbstregierung Gazas durch die Hamas seit 2007 ein wichtiges Faktum. Der Grad dieser Selbstregierung ist zwar unklar und lässt Spielräume bei der Einordnung. Die Organisation des Schulwesens etwa liegt in Gaza gänzlich in den Händen der UNO. Die Steuern hingegen werden exklusiv von der Hamas erhoben, die auch die Scharia als Rechtsordnung durchsetzt.
Die Hamas pflegt weitgehend unabhängig von der Fatah-Regierung internationale Kontakte, intensiv etwa mit dem Iran und Katar, aber auch in die Schweiz. Über die bevorstehenden Angriffe des 7. Oktober war die Fatah-Regierung offenbar nicht informiert.
Spektrum an Einschätzungsmöglichkeiten
Was bedeutet das für den Status von Gaza? Der Küstenstreifen könnte ein De-facto-Regime auf dem Gebiet eines Staates Palästina oder eines De-facto-Staates Palästina sein; ebenso denkbar wäre die Qualifikation als ein von einer privaten Gruppe beherrschter Teil Palästinas, ohne eigene De-facto-Staatlichkeit. Die Antwort hängt vor allem davon ab, wie man die Selbstständigkeit Gazas beurteilt – und wie man die Folgen einer Anerkennung von Gaza als De-facto-Stadtstaat einschätzt.
Hier besteht ein grosses Dilemma. Denn zum einen deutet die Zuerkennung von De-facto-Staatlichkeit eine gewisse Aufwertung an. Sie impliziert ein Existenzrecht und Austausch annähernd auf Augenhöhe. Verständlicherweise wollen das Israel und viele andere nicht – am allerwenigsten im Moment schlimmster Verbrechen.
Andererseits hätte die völkerrechtlich klarere Zuordnung auch für Israel Vorteile, die gemeinhin übersehen werden. Jede Rechtsordnung – auch das Völkerrecht – hat ein Interesse, dass sie für alle relevanten Akteure möglichst umfassend gilt und diese für begangenes Unrecht zur Verantwortung zieht. Das wäre ein Argument, einen Quasi-Stadtstaat Gaza anzunehmen.
Die rechtliche Situation wäre dann nicht zuletzt mit Blick auf das Recht auf Selbstverteidigung geklärt: Dieses Recht besteht gegenüber einem Quasi-Staat so lange, wie ein bewaffneter Angriff von diesem ausgeht. Zugleich wäre klar, dass auch jene Regeln des humanitären Völkerrechts zur Anwendung kommen, die nur für internationale bewaffnete Konflikte gelten.
Qualifiziert man Gaza als De-facto-Stadtstaat, so dürfte der militärische Arm der Hamas, die Al-Kassam-Milizen, ein Organ dieses De-facto-Staates sein – ein terroristisches Organ natürlich, aber auch anerkannte Staaten besitzen kriminell agierende Organe. Das Völkerrecht hat vor allem die Stabilität zwischen den Staaten und auch den De-facto-Staaten im Auge – und im Konfliktfall die Wahrung eines Mindestmasses an Humanität.
Als Kombattanten müssten die Kämpfer der Hamas Uniformen tragen, gefangene Soldaten wären als Kriegsgefangene zu behandeln, und Geiselnahmen sind ausnahmslos verboten.
Diese Annäherung Palästinas oder Gazas an Staatlichkeit ist wohl ein unverzichtbarer Schritt.
Natürlich wäre es naiv, zu glauben, allein durch Veränderungen auf der Statusebene würde das Verhalten der Hamas unmittelbar beeinflusst. Aber dieser Konflikt wird auch auf dem Forum der öffentlichen (Welt-)Meinung ausgefochten, und dort fällt es Israel weiterhin schwer, die rechtlichen Grundlagen seines Handelns verständlich zu machen. Und ja, mit dem Status als De-facto-Regime ginge eine Aufwertung einher, eine Annäherung Palästinas oder Gazas an Staatlichkeit.
Diese Annäherung wäre wohl ein unverzichtbarer Schritt auf dem Weg zu einer tragfähigen Lösung, die mangels Alternativen nur eine Zweistaatenlösung sein kann. Weder die Annexion der besetzten Gebiete durch Israel noch ein Anschluss an die arabischen Anrainerstaaten sind realistische Optionen. Und dass Abschottung und Ummauerung langfristig ebenfalls nicht funktionieren, musste Israel gerade auf schlimmstmögliche Weise erfahren.
Bisher hat es im Nahostkonflikt kein Entrinnen vor der Geschichte gegeben. Je grösser die Opfer, umso stärker ist der Wunsch nach eindeutigen Antworten auf alle Schuldfragen. Je nachdem, wo man diese Geschichte anfangen lässt, widersprechen sich die Antworten diametral. Begann die aktuelle Tragödie am 7. Oktober 2023, bei der Staatsgründung Israels oder bei der Schaffung des Völkerbundmandats Palästina?
Die Nachwirkungen unzähliger Eroberungszüge, Imperien und Kolonialisierungen lasten noch immer wie ein Fluch auf der Levante. Vielleicht aber bieten ja die – aus geschichtlichen Erfahrungen gewonnenen – objektiven Prinzipien des Völkerrechts einen Ansatz, um ein neues und klareres Verhältnis zwischen den Kontrahenten zu schaffen – und eine reale Chance, endlich aus der tragischen Spirale von Gewalt und Gegengewalt auszubrechen.
Die Autoren Oliver Diggelmann und Lorenz Langer sind Professoren am Institut für Völkerrecht und ausländisches Verfassungsrecht der Universität Zürich.
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