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Holocaust-Überlebende
Mit 102 Jahren sagt sie zum neuen Anti­semitismus: «Ich würde nie hassen wollen»

Margot Friedlaender, 98, Shoah survivor and contemporary witness, writer and lecturer, tells her story of how she survived the Shoah in classrooms. Portrait at her home in Berlin, Germany, Europe, on 10 February 2010.

Margot Friedlaender (98) ist eine der wichtigsten und aktivsten Zeitzeugen des Holocaust. || Sie ueberlebte das Ghetto Theresienstadt, ihre Familie wurde im KZ Auschwitz ermordet. Ihre Erinnerungen erschienen in einem Buch: "«Versuche, dein Leben zu machen». Als Juedin versteckt in Berlin" im Rowohlt Verlag. 
Sie lebt seit 2010 in Berlin. Aufnahmen am 10.02.2020 in ihrer Wohnung in Berlin-Charlottenburg.
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Dieser Text erschien erstmals am 6. November 2023.

Die Tür geht auf, und Margot Friedländer steht da. Sie trägt eine schöne gemusterte Bluse, einen schwarzen Bleistiftrock, schwarze flache Schuhe. Als sie geboren wurde, war ein gewisser Joseph Wirth Reichskanzler, Adolf Hitler seit wenigen Monaten Vorsitzender der NSDAP, und soeben war auf der Karlsbader Tagung des Zionistischen Weltkongresses bekräftigt worden, das jüdische Volk habe den Willen, mit den Arabern «im Geist der Verbundenheit und des gegenseitigen Respekts» in Palästina zusammenzuleben. Der Tag ihrer Geburt fiel auf einen Samstag. Es war der 5. November 1921 in Berlin.

Das ist 102 Jahre her. Und hier steht sie vor einem: Margot Friedländer, geborene Bendheim. Ausser ihr hat niemand aus ihrer Familie den Holocaust überlebt. Ihre Mutter und ihr Bruder wurden in Auschwitz ermordet, ihr Vater ebenso. Sie selbst erlebte die Befreiung im KZ Theresienstadt. Nach dem Krieg ging sie zusammen mit ihrem Mann Adolf Friedländer nach New York. Als er 1997 starb, war sie 76 Jahre alt. Und ein anderes Leben ging für sie los. Sie schrieb ihre Erinnerungen auf, wurde Bestsellerautorin, spricht seither als Zeitzeugin in Schulen. Und sie kehrte zurück in ihre alte Heimat: Seit 2010 lebt sie wieder in Berlin. Ihre Wohnung in einer Seniorenresidenz ist voller Bilder, Bücher, Fotos und Blumensträusse. Zwischen all dem tigert eine dicke bernsteinfarbene Katze herum.

Sie klopft, doch die Mutter ist fort

Auf dem Couchtisch liegen zwei Gegenstände bereit, die jeder, der Margot Friedländers Autobiografie gelesen hat, sofort erkennen würde: eine Bernsteinkette und ein schmales Adressbuch. Beides befand sich in der Handtasche ihrer Mutter, die Margot am 20. Januar 1943 von einer Nachbarin ausgehändigt bekam. Am Tag darauf hatten die Mutter, der Bruder und sie – nach mehreren gescheiterten Versuchen – endlich ausser Landes fliehen wollen.

Doch als Margot an jenem Abend nach Hause kommt, steht ein Mann in einem langen dunklen Mantel vor ihrer Wohnungstür, und sie läuft instinktiv weiter, ein Stockwerk höher. Oben lässt sie eine Nachbarin herein und erzählt, dass die Gestapo da war und Margots Bruder mitgenommen hat. Ihre Mutter sei bei anderen Nachbarn. Als Margot etwas später dort anklopft, ist die Mutter fort. Sie ist ihrem Sohn freiwillig auf die Wache nachgefolgt. Sie solle versuchen, ihr Leben zu machen: Diesen Satz der Mutter richtet man ihr aus.

Genau hier beginnt der Film «Ich bin! Margot Friedländer», den das ZDF am Dienstag ausstrahlt. Er will an die Novemberpogrome erinnern, die am 9. November vor nunmehr 85 Jahren im Deutschen Reich stattfanden und all dem Morden, das folgen würde, den Weg bereiteten. Zugleich ist der Film eine Verneigung vor Margot Friedländer, dieser so lebendigen Zeitzeugin, die am Sonntag 102 Jahre alt wurde.

An dieser Stelle die Frage an Margot Friedländer, wie es ihr geht. «Nicht perfekt», sagt sie. «Aber ich mache. Solange es geht, geht es.»

Holocaust survivor Margot Friedlaender arrives for the Walther-Rathenau-Prize awarding ceremony in Berlin, Germany, Monday, July 4, 2022. Margot Friedlaender receives the award for her tireless efforts as a witness to the crimes of National Socialism and its commitment to tolerance and understanding. (AP Photo/Markus Schreiber)

Im Film verkörpert die Schauspielerin Julia Anna Grob die 21-jährige Margot. Wir sehen sie am Abend des 20. Januar 1943, die Tasche ihrer Mutter vor den gelben Stern auf ihrer Jacke gepresst, durch die dunklen Strassen Berlins irren, nicht wissend, wohin. Wer würde ihr helfen, wie könnte sie untertauchen und überleben?

Es ist ein sogenanntes Dokudrama, in dem Schauspieler die wahre Geschichte nachspielen. Zwischendurch taucht immer wieder die heutige echte Margot Friedländer auf, um das Geschehen zu kommentieren oder durch ihre Erinnerungen zu ergänzen.

Ihre Präsenz verleiht dem taktvoll inszenierten Film (Regie: Raymond Ley) eine ausserordentliche Wucht: Es reisst den Zuschauer immer wieder heraus aus der bequemen Annahme, das alles sei eine tragische alte Geschichte, lange her, Schnee von vorgestern. Wobei sich dieser Tage ja drastisch miterleben lässt, wie tief Judenhass in vielen Kulturen sitzt.

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Das Gespräch findet zehn Tage nach dem Terrorangriff der Hamas statt. In Berlin kommt es seither zu einer dramatischen Sichtbarkeit von Antisemitismus. An einigen Gebäuden mit jüdischen Bewohnern sind Davidstern-Schmierereien aufgetaucht.

Die Absicht ist genau dieselbe wie in der «Reichskristallnacht»: Jüdische Menschen sollen gebrandmarkt werden, jeder soll wissen, wo sie wohnen, wer sie sind. Am 9. November 1938 brannten im Deutschen Reich Synagogen, wurden Geschäfte jüdischer Inhaber geplündert, ihre Scheiben eingeschlagen, an die Hauswände wurde der «Judenstern» geschmiert. (Mehr dazu: Habecks Videobotschaft zum Umgang mit Israel bewegt ganz Deutschland)

«Es ist fürchterlich. Wir sind doch Menschen. Man muss im anderen doch den Menschen sehen.»

Margot Friedländer zum neuen Antisemitismus in Deutschland

Margot Friedländer, diese grosse und mutige, kleine, zarte Person, hat es miterlebt. Am Morgen des 10. November vor 85 Jahren hat sie die geplünderten Läden gesehen, den Brandgeruch in der Luft eingeatmet, auf ihrem Weg zur Arbeit knirschte das Glas eingeschlagener Schaufenster unter ihren Sohlen. Sie hat sich mit ihrem ganzen Leben zur Verfügung gestellt, um alles dafür zu tun, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Muss sie da jetzt nicht verzweifeln?

«Es ist fürchterlich», sagt sie, auf die aktuelle Lage angesprochen, «ganz fürchterlich. Wir sind doch Menschen. Man muss im anderen doch den Menschen sehen.» Sie spricht leise. Im Hintergrund rotiert eine Waschmaschine im Schleudergang. Sie verfolgt die Nachrichten, telefoniert viel mit Freunden, das bestimmende Thema dieser Tage ist auch für Margot Friedländer die Weltpolitik. «Man fragt mich oft, ob ich hasse», sagt sie. «Aber Hass ist eine schreckliche Sache. Ich würde nie hassen wollen. Es bringt nichts. Ich habe nie gehasst, auch früher nicht. Es gibt kein christliches, muslimisches, jüdisches Blut, nur menschliches. Seid Menschen! Das ist es, was ich zu sagen habe.»

Als junge Frau hat sie die komplette Bandbreite dessen kennen gelernt, wozu Menschen fähig sind, im Guten wie im Schlechten. Mutige nichtjüdische Berliner versteckten sie unter Gefahr für das eigene Leben, so gelang es ihr, ein Jahr und drei Monate lang als Jüdin in Berlin unterzutauchen. Nicht alle waren altruistische Helden, einige erwarteten Gegenleistungen. Schliesslich waren es Juden, die sie verrieten. Für die Gestapo arbeitende Greifer sprachen sie im April 1944 auf der Strasse an, was zu ihrer Deportation ins KZ führte.

Wie sich die Schlinge zuzog

Friedländers Buch «Versuche, dein Leben zu machen» erzählt nachvollziehbar, wie sich die Schlinge der Nazis für jüdische Menschen immer weiter zuzog. Wie der Alltag immer beschwerlicher wurde, wie jüdische Bürger, die nicht emigrieren wollten – oder konnten – durch ständig neue Vorschriften und Verbote dazu gezwungen wurden, schliesslich eine Parallelexistenz zu führen, in der es keine Berührungspunkte mehr mit nichtjüdischen Berlinern gab. Das Ganze vollzog sich allmählich. Was man gestern noch für undenkbar gehalten hatte, war irgendwann Normalität. «Man muss vorsichtig sein», sagt Margot Friedländer. «Man darf nicht denken, dass das, was damals geschah, einmalig ist.» Es brauche nur Gleichgültigkeit und einen kleinen Funken, um Menschen aufzuwiegeln, und sie sind in der Lage, Dinge zu tun, die sie noch gestern weit von sich gewiesen hätten.

Margot Friedländer zieht etwas unter einem Stapel Briefe hervor. «Das war meiner», sagt sie. Es ist ihr «Judenstern», wie es in der Sprache der Nazis hiess. Der Stoff ist immer noch leuchtend gelb, Jude steht darauf, in hebräische Schrift verhöhnenden Buchstaben. Ab dem Herbst 1941 mussten Juden im Deutschen Reich dieses Zwangskennzeichen sichtbar auf ihrer Kleidung tragen. Zehn Pfennige musste ihre Mutter damals dafür bezahlen.

Nach der Trennung der Eltern lebten Margot und ihr Bruder bei der Mutter. Ihr Bruder hiess Ralph. Er war vier Jahre jünger. Er trug eine dicke Hornbrille, spielte Geige, boxte im Verein Maccabi Berlin. Er war sehr gut in der Schule, übersprang Klassen, hatte mit 16 schon sein Abitur. Beim Gehen pflegte er die Hände auf dem Rücken zu verschränken, was ihn würdevoll aussehen liess. Margot Friedländer fragt sich oft, was wohl aus ihm geworden wäre. «Er war so brillant.» Am 29. Januar 1943 wurden Mutter und Sohn nach Auschwitz deportiert. Von ihr weiss man nichts weiter. Ralph starb am 24. Februar 1943.

Warum geht sie mit 102 Jahren an Schulen und spricht vor Klassen? «Man muss es doch wenigstens versuchen.»

Was diese beiden Menschen angeht, ist die Zeit für immer in Margot Friedländer angehalten. Ihr Bruder wäre heute, würde er noch leben, ein alter Mann von 98 Jahren, aber für sie ist er immer noch ihr kleiner 17-jähriger Bruder. Und wenn sie über ihre Mutter redet, sagt diese über 100-Jährige immer noch Mutti. Man fängt fast an zu weinen, wenn man das hört.

Es sind dies die letzten Momente, in denen noch Zeitzeugen des grössten Massenmords leben, den Menschen, es waren Deutsche, je an anderen Menschen begangen haben. In Deutschland wird seither gern gebetsmühlenartig wiederholt: Nie wieder! Was das heisst, wird sich zeigen. Margot Friedländer unterstützt die Organisation Zweitzeugen, eine Art Staffelübergabe an Nachgeborene, die stellvertretend die Erinnerung an die Shoah wachhalten sollen. Ausserdem hat sie gerade eine Stiftung zur Förderung von Freiheit und Demokratie gegründet. Und dann gibt es noch einen nach ihr benannten Preis für Schüler, die sich gegen Antisemitismus und Rassismus einsetzen.

Glaubt Margot Friedländer daran, dass der Mensch lernen kann? Ist sie optimistisch, dass sich schliesslich alles zum Besseren entwickelt? «Nein.» Ihre Antwort kommt schnell. «Nein. Leider nicht. Ich habe das gehofft, aber ich glaube es nicht.» Und warum macht sie das dann alles? Warum geht sie immer noch, mit über 100 Jahren, an Schulen, spricht vor Klassen, vor Politikern, hat jetzt an diesem Film mitgewirkt, gibt Interviews?

Sie guckt einen lange an. Und sagt dann: «Man muss es doch wenigstens versuchen.»