Verfehlte PandemiepolitikJohnson verantwortlich für horrende Opferzahlen
Britische Parlamentarier fällen ein vernichtendes Urteil über die Pandemiepolitik von Boris Johnson, die Tausende von Menschen das Leben gekostet haben soll. Auch jetzt handle die Regierung wieder leichtfertig, warnen Experten.
Abgeordnete aller grossen Parteien in Westminster haben Boris Johnsons Regierung am Dienstag beschuldigt, im Kampf gegen die Corona-Pandemie kläglich versagt zu haben. Die Parlamentarier fanden, die britische Regierung habe «einen der schlimmsten Fehlschläge» im Gesundheitsbereich zu verantworten, die man je erlebt habe in der Geschichte des Vereinigten Königreichs. In einer gemeinsamen Untersuchung, deren Veröffentlichung am Dienstag wie ein Blitz einschlug in London, warfen der Gesundheits- und der Wissenschaftsausschuss des britischen Unterhauses der Regierung vor, aus reinem «Fatalismus» und arrogantem «Gruppendenken» in den ersten Monaten der Pandemie eine Politik verfolgt zu haben, die praktisch in einer Strategie der Herdenimmunität resultierte, statt die Bevölkerung wirkungsvoll zu schützen.
Mit dieser «falschen Politik» habe die Regierung «eine höhere Todesrate» in Kauf genommen, als andere Länder sie hatten, zu Beginn der Pandemie. In der Tat beklagte Grossbritannien schon nach der ersten Corona-Welle, im Sommer 2020, die mit Abstand höchste Zahl an Covid-19-Toten in Europa. Mittlerweile geht das Amt für nationale Statistik davon aus, dass bis heute über 160’000 Menschen im Vereinigten Königreich dem Virus zum Opfer gefallen sind.
Vorigen Herbst hatte sich Premier Johnson widerwillig bereit erklärt, im Laufe des Jahres 2022 eine unabhängige öffentliche Untersuchung einzuberufen, die sich in den folgenden Jahren mit entsprechenden Fragen beschäftigen sollte. So lange aber wollten britische Parlamentarier nicht warten. Statt Johnson Initiative und Timing zu überlassen, leiteten die beiden zuständigen Unterhaus-Ausschüsse ihre eigene Untersuchung ein.
Regierungs- und Oppositions-Abgeordnete stimmten zu
Vorsitzende der beiden Ausschüsse sind zwei ehemalige konservative Kabinettsminister – der frühere Gesundheitsminister Jeremy Hunt und Ex-Wirtschaftsminister Greg Clark. Der von ihnen vorgelegte Bericht wurde von den 22 Ausschussmitgliedern einstimmig angenommen. Den Ausschüssen gehören Tory-Abgeordnete ebenso wie Repräsentanten der Oppositionsparteien an.
In ihrem Bericht werfen die Parlamentarier Johnsons Regierung und deren Top-Beratern vor, aus fatalistischen Gründen die Verhängung des ersten Lockdown sträflich hinausgezögert zu haben, nämlich bis zum 23. März 2020. Dies sei bewusst geschehen, weil man die Bekämpfung zunächst offenbar für zwecklos hielt.
Gruppendenken und typisch «britische Selbstüberschätzung», auch unter den wissenschaftlichen Beratern, hätten dazu geführt, dass man erfolgreiche Aktionen anderer Staaten – wie etwa Südkoreas – in der Anfangsphase schlicht ignorierte: «Dabei zählte damals jede Woche», heisst es im Bericht. Ebenso steht darin, dass man es lange an Testkapazität im Land habe fehlen lassen.
Regierung hielt Tests für sinnlos
Noch im März 2020 hatte die Regierung sogar beschlossen, Massentests ganz abzublasen, weil sie solche Tests für sinnlos hielt. Der spätere Aufbau eines «Test-and-Trace-Systems» sei wiederum «langsam, ungewiss und oft chaotisch» vor sich gegangen und habe so die Fähigkeit zur Bekämpfung der Pandemie erheblich beeinträchtigt – trotz der enormen Gelder, die der Staat seinerzeit in dieses (teils kommerziell betriebene) System investierte.
Die Ironie bei der Sache sei gewesen, klagen die Abgeordneten, dass Grossbritannien schon im Januar 2020 Covid-Tests entwickelte und so «eines der ersten Länder» mit diesen Möglichkeiten gewesen sei. Seinen Vorsprung in diesem Punkt habe London aber vergeudet. Es sei «ein unglaublicher Rückschlag» gewesen, dass ausgerechnet «ein Land mit einer Datenanalyse von Weltrang der grössten Gesundheitskrise seit 100 Jahren praktisch ohne Daten zum Analysieren gegenüberstand».
Lob zollt der Untersuchungsbericht der frühen Entwicklung und dem erfolgreichen Einsatz von Impfstoff in Grossbritannien sowie der Entwicklung einer Reihe von Medikamenten seit Beginn der Pandemie.
Bericht weckt auch Zweifel am gegenwärtigen Kurs der Regierung.
Scharfe Kritik übt er dagegen am mangelnden Schutz von Behinderten, von Menschen in Alters- und Pflegeheimen und von dunkelhäutigen Mitbürgern und Mitgliedern anderer ethnischer Minderheiten. Auch seien Grenzkontrollen nicht rechtzeitig eingeführt worden, als noch Zeit dafür war.
Der Bericht der beiden Ausschüsse hat unterdessen neue Zweifel geweckt am gegenwärtigen Kurs der Regierung. Denn seit Juli sind in England fast alle Sicherheitsvorkehrungen abgeschafft – wie die Pflicht zum Maskentragen oder zum Abstandhalten. Weder bei Gaststätten-Besuchen noch bei Grossveranstaltungen ist das Vorzeigen von Impfausweisen oder von Testnachweisen gesetzlich vorgeschrieben.
Die Regierung hat zudem alle Bürger aufgefordert, zurück an ihren Arbeitsplatz zu gehen. In Geschäften und selbst im Nahverkehr tragen immer weniger Briten einen Mund-Nasen-Schutz. Dabei meldet Grossbritannien noch immer etwa 40’000 Neuinfektionen pro Tag, und im Schnitt 140 Tote. Unabhängige Experten haben bereits gewarnt, dass das Aufkommen einer neuen Virusvariante in diesem Winter «katastrophale Folgen» haben könnte. Es sei «total leichtfertig» von der Regierung, mit simplen Vorsichtsmassnahmen zu warten, bis sich die Lage im Land erneut verschlechtere. Der Regierungschef hält sich zurzeit ferienhalber in Spanien auf.
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