Umstrittener StrategiewechselJetzt will Philip Morris die Raucher heilen
Der Tabakriese kauft Pharmafirmen auf, die exakt jene Gesundheitsprobleme bekämpfen, die das Rauchen verursachen. Kritiker bezeichnen das als zynisch und verlogen.
Die Reaktion gegen den Tabakkonzern war prompt und harsch. Die European Respiratory Society, eine Vereinigung von Spezialisten für Lungen- und Atemwegserkrankungen, warnte vor schweren Folgeschäden. Ärzte und Spitäler würden nicht länger Medikamente von Pharmafirmen verschreiben, die mit einem Tabakkonzern gemeinsame Sache machten.
Die US-amerikanische COPD Foundation, die sich um chronische Lungenschäden kümmert, sagte es noch klarer: «Die Heirat von Vectura und Philip Morris reizt die moralische Verantwortung von Unternehmen bis an die Grenzen aus.»
Drei Firmen für 2 Milliarden Dollar gekauft
Hinter dem Aufruhr steht der Entscheid von Philip Morris International, das Geschäftsmodell auf den Kopf zu stellen. Der schwindende Tabakverkauf soll durch eine Wende hin zu einem Gesundheitsanbieter aufgefangen werden – und das exakt dort, wo der Tabakkonzern die grössten Gesundheitsschäden verursacht hat.
In diesem Sommer kaufte der Marlboro-Konzern fast unbemerkt von der Öffentlichkeit drei Pharmafirmen zusammen, die Medikamente und Geräte zur Linderung von Schädigungen der Lunge, des Herzens und der Atemwege lindern sollen.
Für 1,2 Milliarden Dollar wurde die britische Vectura integriert, womit Philip Morris Fachwissen für Inhalationsgeräte für unkontrolliertes Asthma und andere Atemprobleme erwirbt, die oft durch das Rauchen verursacht werden. Vectura ist eine Auftragsfirma für Pharmakonzerne, unter anderem für Novartis.
Für 820 Millionen Dollar übernahm Philip Morris zudem die dänische Fertin Pharma. Sie ist auf die Herstellung von Kautabletten und anderen oralen Verabreichungsformen für Medikamente spezialisiert, zum Beispiel für Nikotinersatzprodukte, aber auch Nikotin-Pouches.
Schliesslich kaufte Philip Morris im August die US-amerikanische OtiTopic für einen ungenannten Preis. Die Firma stellt Aerosole her, unter anderem für Aspirin in Puderform. Dies erlaubt, das Medikament einzuatmen, statt zu schlucken, wodurch die Linderung für Herzkranke innert zwei statt zwanzig Minuten eintreten soll.
Hinter der Expansion in die Heilmittelbranche steht der neue Konzernchef Jacek Olczak. «Unser Ziel ist, bis 2025 die Hälfte unserer Einnahmen mit rauchfreien Produkten zu machen», erklärt er. «Der erste Schritt für unsere Kunden ist der Verzicht auf das Rauchen. Aber wenn sie das nicht tun wollen, so sollten sie auf bessere Alternativen umsteigen.»
Gemeint sind Nicht-Tabakprodukte, mit denen der Konzern bereits ein Viertel des Umsatzes macht und dessen Anteil in fünf Jahren auf 50 Prozent steigen soll. Die grösste Investition in diesen Markt allerdings war ein Misserfolg. Altria, das Mutterhaus von Philip Morris, gewann vor drei Jahren für 12,8 Milliarden Dollar die Kontrolle des Vapor-Herstellers Juul. Doch Juul geriet mit irreführender Werbung in Diskredit, musste sich aus den meisten Märkten (auch der Schweiz) zurückziehen, und nun steht Altria selber wegen wettbewerbsschädigenden Praktiken vor Gericht.
«Wir werden eine eigenständige Produktlinie für rezeptpflichtige und andere Medikamente zum Inhalieren entwickeln.»
Während der Zigarettenverkauf schrumpft und das Vapen nicht anhält, versprechen medizinische Inhalationsprodukte ein starkes Wachstum. Analysten rechnen mit einer weltweiten Nachfrage von 41 Milliarden Dollar im Jahr 2026. Altria machte im vergangenen Jahr einen Umsatz von 26 Milliarden. Philip Morris wolle in diesem ein grosser Player werden, sagt Konzernchef Olczak. «Wir werden eine eigenständige Produktlinie für rezeptpflichtige und andere Medikamente zum Inhalieren entwickeln.»
Doch der Backlash gegen diese Strategie, mit den Erkrankungen Geld zu machen, die der Konzern jahrelang abgestritten und vertuscht hatte, geht bereits über die Gesundheitsbranche aus. Vor allem die Finanzbranche ist skeptisch, da viele Fondsmanager nicht in gesundheitsgefährdende Industrien investieren wollen – oder es gemäss ihrem Marketing als nachhaltige Fonds nicht dürfen.
Betroffen sind auch Tabakkonzerne, und das unabhängig davon, ob sie nur mit Zigaretten Gewinn machen. Die britische Aktionärsberater-Gruppe Pirc spricht von einem unverantwortlichen Geschäftsmodell, mit dem Philip Morris zunächst mit den Zigaretten und danach mit den durch Nikotin verursachten Schäden Geld machen wolle. Pirc empfiehlt den Aktionären, die Übernahme von Vectura abzulehnen. Philip Morris will 2025 den Zigarettenverkauf in Grossbritannien einstellen.
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