Sicherheitspolitik in AsienJapan rüstet sich für den Ernstfall
Weil die autokratischen Nachbarn Russland, China und Nordkorea immer bedrohlicher werden, will Premierminister Fumio Kishida die Verteidigung seines Landes stärken. Sogar die pazifistische Verfassung steht zur Diskussion.
Auch an Tag zwei des G-7-Gipfels auf Schloss Elmau versäumte es Japans Premierminister Fumio Kishida nicht, deutliche Zeichen zu setzen in diesen Zeiten des russischen Kriegs. Das Tagesprogramm im fernen Deutschland hatte noch gar nicht richtig begonnen, da meldete der japanische Sender NHK in der Heimat schon Kishidas nächste Akte der Solidarität: Umgerechnet 192 Millionen Franken will er gegen die globale Lebensmittelkrise einsetzen, die Wladimir Putins Angriff auf die Ukraine ausgelöst hat. Ausserdem sollen die Ukraine und betroffene Nachbarn eine Finanzspritze von mehr als einer Milliarde Franken erhalten.
Tags zuvor hatte Kishida neue Sanktionen gegen Russland angekündigt. Zudem erklärte er, Japan werde umgerechnet etwa 63 Milliarden Franken zum neuen Infrastrukturprogramm beitragen, mit dem die G-7 eine Alternative zu Chinas Belt-and-Road-Initiative schaffen will. Fumio Kishida hatte die anderen G-7-Staaten auch dazu aufgerufen, als Einheit zu verhindern, «dass andere Länder falsche Lehren aus der Situation in der Ukraine ziehen».
Erstmals beim Nato-Gipfel dabei
An diesem Mittwoch wird er ein weiteres deutliches Bekenntnis zum Westen nachlegen: Wenn Kishida nämlich auf Einladung der Nato in Madrid als erster japanischer Premierminister an einem Gipfel des nordatlantischen Sicherheitsbündnisses teilnimmt.
Die Nähe zur westlichen Welt ist ein wichtiger Pfeiler in der neuen Sicherheitspolitik des fernöstlichen Inselstaats. Kishida, seit vergangenem Oktober Premierminister, kappt dabei Verbindungen, in die andere japanische Machtmenschen lange grosse Hoffnungen gesetzt haben. Shinzo Abe, von 2012 bis 2020 ein prägender Regierungschef, suchte immer die Nähe zu Putin. Er glaubte so, die Südinseln des Kurilen-Archipels vor Hokkaido zurückbekommen zu können, welche die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg besetzt hatte.
Umzingelt von autoritären Regimes
Aber Russlands Angriff auf die Ukraine hat alles verändert. Auch Japan hat daraus lernen müssen, dass autoritäre Regimes sich nicht unbedingt an Grenzen und internationale Regeln halten. Diese Erkenntnis ist für Japan besonders bedrohlich, denn sein schlankes Staatsgebiet im Pazifik ist umzingelt von solchen Regimes: Nordkorea, Russland, China. Alle sind mit Atomraketen bewaffnet, alle spielen ihr eigenes Spiel, und China will eindeutig seine Machtsphäre im Indopazifik erweitern.
Japans Verhältnis zum riesigen Nachbarn ist historisch belastet. Die strategisch wertvollen Senkaku- oder Diaoyu-Inseln im Ostchinesischen Meer, die Japan verwaltet, aber China beansprucht, sind ein harter Konfliktpunkt. Japan fühlt sich bedroht von chinesischen Schiffen, die ständig in der Region aufkreuzen. Nicht minder fürchtet es die Aussicht, dass China das demokratisch regierte Taiwan, das nicht weit entfernt von den Inseln der japanischen Präfektur Okinawa liegt, in seine Machtsphäre holen könnte.
Verteidigungsminister Nobuo Kishi, ein Bruder Shinzo Abes, hat erst kürzlich bei der jährlichen Sicherheitskonferenz Shangri-La Dialogue in Singapur einen ungewöhnlich scharfen Ton angeschlagen. Er beklagte «Versuche, die militärische Macht schnell und umfassend auszubauen, ohne dass dies transparent ist». Und er schimpfte: «Der Protagonist hat nie auf den potenziellen Einsatz von Gewalt gegen Taiwan verzichtet.» Wen Kishi damit meinte, war klar: China.
Jedenfalls bereitet sich Japan nun konsequenter denn je auf den Ernstfall vor. Kishidas rechtskonservative Regierungspartei LDP hat dazu geraten, den Rüstungsetat nach der Nato-Empfehlung auf mindestens zwei Prozent des Bruttosozialprodukts anzuheben. Ausserdem bekennt sie sich neuerdings offiziell zu einer Sicherheitsstrategie, die auf die Fähigkeit zum Gegenschlag bei gegnerischen Angriffen baut. Sie wirbt damit dieser Tage um Stimmen bei der Wahl zum Oberhaus am 10. Juli. Zum Wahlkampfauftakt versprach LDP-Chefstrategin Sanae Takaichi eine lückenlose Verteidigung «auch durch den Einsatz ballistischer Raketen, um Angriffe abschrecken und entsprechend beantworten zu können».
Kritiker sagen, dieses Versprechen verstosse gegen Artikel neun der japanischen Verfassung, die Japan als früheren Aggressor des Zweiten Weltkriegs auf Gewaltlosigkeit verpflichtet und keine Streitkräfte erwähnt. Aber genau deshalb ist die aktuelle Oberhauswahl für die LDP dieses Jahr so wichtig.
Im Grunde geht es dabei nur wie alle drei Jahre um die Hälfte der Sitze im weniger einflussreichen Senat des japanischen Zweikammerparlaments. Aber die Aussichten stehen nicht schlecht, dass nach der Wahl der Block aus LDP, deren Koalitionspartner Komeito sowie den beiden rechten Oppositionsparteien Nippon Ishin no Kai und DPP eine Zweidrittelmehrheit stellt. Im Unterhaus ist das seit der jüngsten Wahl im vergangenen Oktober schon der Fall. Wer die Verfassung ändern will, braucht eine Zweidrittelmehrheit in beiden Häusern. Seit Russlands Angriff auf die Ukraine hat der pazifistische, dem Buddhismus nahestehende LDP-Partner Komeito seine strikte Friedensagenda korrigiert.
Konservativer Block strebt Zweidrittelmehrheit an
«Wir würden gern die Öffentlichkeit davon überzeugen, dass es notwendig ist, Japans Verteidigung sowie die Abschreckung und Antwortfähigkeit der japanisch-amerikanischen Allianz zu stärken», sagte Komeito-Chef Natsuo Yamaguchi zuletzt bei der Vorstellung des neuen Wahlprogramms. Vor der Unterhauswahl im vergangenen Oktober war davon noch keine Rede.
Es ist ein lang gehegter Wunsch der LDP, den Artikel neun der Verfassung umzuschreiben. Sie will die Selbstverteidigungskräfte ausdrücklich erwähnen und eine Klausel für den Notfall einfügen. Bisher ist der Wunsch immer gescheitert. Die Zweidrittelmehrheit fehlte. Komeito machte nicht mit. Und Kritiker fanden, dass Japan die eigene Kriegsschuld nicht gut genug aufgearbeitet habe für so einen historischen Schritt. Aber jetzt haben Premierminister Fumio Kishida und die LDP eine historische Chance. Russlands Angriff auf die Ukraine hat ihnen ein überzeugendes Argument geliefert, das Japans Bewaffnung rechtfertigt.
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