Gräueltaten im Nahost-KriegGaza ist zum grössten Kinderfriedhof der Welt geworden
Der Gazastreifen ist der gefährlichste Ort der Welt für Kinder: Mehr als hundert von ihnen sterben täglich. Ganze Generationen werden traumatisiert. Eine Übersicht.
Wann ist endlich Frieden? Warum gibt es eigentlich Streit? Kann man Glück haben im Krieg? Es sind scheinbar einfache Fragen, die Kinder in allen Kriegsgebieten stellen – auch im Gazastreifen, wo seit dem entsetzlichen Massaker der Hamas an israelischen Zivilisten am 7. Oktober 2023 der Krieg mit der islamistischen Terrorbande tobt.
Kinder sind die Schwächsten und Verletzlichsten, wenn Bomben fallen. Ihre Knochen brechen leichter. Ihre Körper verbluten schneller, weil sie kleiner sind. Sie sind anfälliger für die Folgen der Unterernährung. Hilfsorganisationen beklagen in eindringlichen Appellen das Leid der Kinder im Gazastreifen. Für Kinder ist der palästinensische Küstenstreifen der gefährlichste Ort der Welt.
Eine Zusammenstellung von Fakten und Zahlen, Schicksalen und Einschätzungen liefert das Bild einer schrecklichen humanitären Lage in Gaza.
Über 10’000 Kinder getötet
Gaza ist mit nur 365 Quadratkilometern etwas grösser als der Kanton Schaffhausen. Schon vor Beginn des jüngsten Krieges galt der Landstreifen als eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt. Von den 2,2 Millionen Einwohnern sind mehr als die Hälfte Kinder und Jugendliche. Gemäss UNO-Angaben hat der Krieg über anderthalb Millionen Menschen in Gaza zu Binnenflüchtlingen gemacht. Es handle sich um «eine der intensivsten zivilen Bestrafungsaktionen der Geschichte», stellt Robert Pape von der Universität Chicago gegenüber US-Medien fest. Er erforscht unter anderem politische Extremisten in Nahost.
Ein Ende des seit über drei Monaten andauernden Krieges ist nicht in Sicht. Schon Ende November soll US-Aussenminister Antony Blinken die israelische Regierung gewarnt haben, sie riskiere mit ihrer Offensive «der verbrannten Erde», die moralische Überlegenheit zu verlieren. Sechs Wochen später, so die «Washington Post» kürzlich, sei die Zahl der zivilen Opfer nur geringfügig zurückgegangen. Die Appelle verhallen weitgehend wirkungslos.
Das Kinderhilfswerk Save the Children schätzt in einem Report, dass in den ersten hundert Tagen des Gaza-Krieges über 10’000 Kinder getötet wurden, inzwischen ist mehr als eine weitere Kriegswoche vergangen. Mehr als hundert Kinder sterben jeden Tag: Gaza ist mittlerweile zum grössten Kinderfriedhof der Welt geworden. Zudem wurden Tausende Kinder verletzt oder werden vermisst. Über tausend Kinder haben seit Anfang Oktober Gliedmassen verloren. Die Ärzte müssen häufig ohne Betäubung Arme und Beine amputieren.
Nach Angaben der US-Geheimdienste ist fast die Hälfte der Bomben, die Israel gegen die Hamas einsetzt, ungesteuert. Entsprechend gross sind die sogenannten Kollateralschäden. Mit diesem Unwort verharmlosen die Militärs den Tod unbeteiligter Zivilisten. Dass Zivilisten in hoher Zahl ums Leben kommen, ist auch dem Verhalten der Hamas geschuldet, die die eigene Bevölkerung, ihre Wohnhäuser und andere zivile Einrichtungen als Schutzschild missbraucht.
«Massenhafter Tod, Zerstörung, Vertreibung, Hunger, Verlust und Trauer haben die von uns allen geteilte Menschlichkeit befleckt», schrieb der Schweizer Diplomat Philippe Lazzarini kürzlich über den Gaza-Krieg. Er ist Chef des Palästinenserhilfswerks der UNO.
Opfer von Mangelernährung und Krankheiten
Kinder sterben nicht nur bei den Luftangriffen und den Bodenoperationen Israels. Gemäss Save the Children ist die Unterversorgung mit Nahrungsmitteln eine riesige Gefahr. Nahezu alle Kinder sollen von Mangelernährung und Hungersnot bedroht sein. Besonders betroffen seien die rund 335’000 Kinder unter fünf Jahren. Ein Teil der überlebenden Kinder könnte, so eine Befürchtung, lebenslange körperliche und psychische Schäden erleiden.
Ein weiteres Problem: «Die Ausbreitung von Krankheiten nimmt zu und fordert zusätzliche Opfer.» Dafür gibt es mehrere Gründe: die Überbelegung der Notunterkünfte, der fast vollständige Zusammenbruch der Sanitäranlagen und Gesundheitseinrichtungen, der Mangel an Medikamenten und medizinischer Versorgung, die steigende Zahl von Leichen und die Knappheit an sauberem Wasser. Dazu kommen die kalten Temperaturen und das nasse Wetter in diesen Wintermonaten.
Die Abwehrkräfte vor allem junger Menschen seien erschöpft, berichten Ärzte. Das erhöhe die Gefahr, dass sich Infektionskrankheiten oder Seuchen ausbreiteten. Schwere Mangelernährung und Krankheiten können tödlich enden. Lungenentzündung ist in Gaza eine häufige Todesursache für Kinder.
Save the Children geht davon aus, dass über 890’000 Kinder vertrieben worden sind. Ein Teil dieser Kinder hat die gesamte Familie verloren. Im Alltag geht es um das Überleben. Orte, die Schutz bieten, gibt es nicht, wie Menschenrechtler und Helfer berichten. «Man hat nicht das Gefühl, dass es in Gaza einen sicheren Ort gibt», sagt der Notfallmediziner Edward Chu von Ärzte ohne Grenzen in einem «Spiegel»-Gespräch. «Die Möglichkeit, humanitäre Hilfe zu leisten, ist in diesem Krieg so eingeschränkt, wie ich es noch nie erlebt habe.»
Sich auf die Lage der Kinder beziehend, berichtete Unicef-Sprecher James Elder, dass er ein solches Ausmass an verletzten und getöteten Kindern in 20 Jahren nie gesehen habe, weder in Afghanistan noch in Somalia. «Wir sprechen nicht ohne Grund von einem Krieg gegen Kinder», sagte er nach einem Besuch in Gaza.
Mehr Fehl-, Tot- und Frühgeburten
Sehr schwer haben es Frauen, die ein Kind erwarten. Internationale Hilfsorganisationen schätzen die Zahl der Schwangeren im Gazastreifen auf rund 50’000. Hinzu kommen über 100’000 stillende Mütter. Viele schwangere Frauen leben eng zusammengepfercht in Zelten; eine Gesundheitsvorsorge ist kaum vorhanden, sanitäre Anlagen sind schmutzig, es fehlen Hygieneartikel.
Stressbedingte Fehl-, Tot- und Frühgeburten haben laut dem UNO-Kinderhilfswerk Unicef zugenommen. Täglich entbinden mehr als 180 Frauen unter schwierigsten Bedingungen. «Einige Frauen gebären ihre Kinder in Autos, auf der Strasse und in überfüllten Unterkünften, während gleichzeitig Infektionskrankheiten zunehmen», berichtet die US-Gynäkologin und Menschenrechtlerin Alice Rothschild in einem Gastbeitrag für die «New York Times». Neugeborene sterben, weil sie nicht versorgt werden können.
Das Trauma des Krieges gräbt sich tief in die Seele der Menschen. Der Krieg zeichnet ganze Generationen von Heranwachsenden. Sie würden medizinische und psychiatrische Behandlungen benötigen, werden diese aber mehrheitlich nie bekommen. Kinder und Jugendliche können seit drei Monaten nicht mehr zur Schule gehen. Mehr als die Hälfte aller Schulgebäude ist teilweise oder ganz zerstört. Ohne Bildung verdüstern sich die Perspektiven der Gaza-Jugend.
Schon vor dem Krieg war die Lage für die Verletzlichsten der Bevölkerung im Gazastreifen besorgniserregend, weil die korrupte Hamas-Führung Milliarden an US-Dollar lieber in ein weitverzweigtes Tunnelsystem investierte und von der Zerstörung Israels träumte. Seit dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober verfolgt Israel das legitime Ziel, die Terrororganisation in Gaza zu zerschlagen. Doch selbst wenn dies gelingen sollte, wird die islamistische Ideologie nicht einfach verschwinden, ganz im Gegenteil. Der Krieg schafft neue Terroristen.
«Wir haben es satt hier»
Die 16-jährige Salma musste nach Beginn der israelischen Militäroperation zusammen mit ihrer Familie flüchten. Vor ein paar Wochen erzählte sie den Mitarbeitern der Hilfsorganisation Save the Children von ihrem tristen Leben in einem Schutzraum in Gaza. Sie sei seit drei Tagen nicht mehr zur Toilette gegangen, so das Mädchen. «Hier ist das Wasser schmutzig und salzig. Und selbst das Wasser, das wir kaufen, ist nicht sauber.» Sie habe bereits eine Magen-Darm-Infektion eingefangen. Häufig mischen sich Regen- und Abwasser in den Strassen, in den Notunterkünften breiten sich Krankheiten aus.
Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass die Zahl der Todesopfer durch Krankheit und Hunger in den kommenden Monaten die Zahl der bisher im Krieg getöteten Menschen – etwa 24’000 – übersteigen wird. Salma hat zwei Träume, wenn der Krieg eines Tages zu Ende geht. Sie will Zahnärztin werden und sie will Gaza für immer verlassen. Bei der Flucht habe sie nur ihren Geburtsschein und ein paar Kleider mitgenommen. «Wir haben es satt hier.»
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