Nach sechs getöteten GeiselnDemonstranten in Israel gewinnen einen mächtigen Verbündeten
In Tel Aviv folgen die Massen dem Aufruf zu Protest und Generalstreik. Sie geben Premier Netanyahu die Schuld am Tod weiterer Geiseln. Der weiss sehr wohl um die Macht der Strasse.
Am Morgen liegt eine seltsame Ruhe über der Stadt und viel Wut in der Luft. Israel ist im Krieg, und obendrein nun auch noch im Streik. In Tel Aviv und andernorts bleiben viele Amtsstuben, Büros und Läden leer, Busse stehen im Depot, und vom internationalen Ben-Gurion-Airport werden Beeinträchtigungen des Flugverkehrs gemeldet. Zum «Stillstand» werde das Land am Montag gebracht, hat der Gewerkschaftsdachverband Histadrut angekündigt und damit Druck gemacht auf die israelische Regierung. Die Forderung: Die Geiseln sollen aus Gaza heimgeholt werden! Jetzt sofort! Durch ein Abkommen mit der Hamas!
Verlangt wird das seit je schon von den Angehörigen der Entführten und ihren Unterstützern. Doch nun haben sie mit dem Histadrut, der Hunderttausende vertritt in Israel, einen mächtigen Verbündeten gewinnen können, zumindest für diesen einen Tag des Generalstreiks. Gewerkschaftsboss Arnon Bar-David hatte wohl die Erschütterung gespürt, die das Land erfasst hat nach dem Fund von sechs Leichen in einem Tunnel in Rafah in der Nacht zum Sonntag. Die sechs Entführten waren erst kurz zuvor von ihren Geiselnehmern erschossen worden – und sie hätten, so glauben es viele im Land, gerettet werden können.
Der Generalstreik ist ein mächtiges Druckmittel
«Wir können nicht länger an der Seitenlinie stehen», erklärte Bar-David nach einem Treffen mit den Angehörigen. Ein Abkommen sei nun wichtiger als alles andere – wichtiger vor allem als «politische Beweggründe», mit denen Ministerpräsident Benjamin Netanyahu nach Ansicht seiner Kritiker das Überleben seiner rechten Regierung über das Leben der Geiseln stellt.
Der Generalstreik ist tatsächlich ein mächtiges Druckmittel, und der Premier weiss das nur zu gut. Zuletzt hatte der Histadrut im März 2023 zu diesem Mittel gegriffen, als Netanyahu im Streit um die Justizreform kurzerhand seinen Verteidigungsminister Yoav Gallant gefeuert hatte. Als Zehntausende spontan dagegen auf die Strasse zogen und die Gewerkschaft ihre Muskeln spielen liess, musste Netanyahu die Entlassung zurücknehmen. Diese inzwischen legendäre «Gallant-Nacht» gilt als Kipppunkt, an dem die Regierung den Kampf um die Justizreform verlor.
All das schwingt auch am Sonntagabend mit, als in Tel Aviv die Massen dem Aufruf zum Protest folgen. Es wird die grösste Demonstration seit Kriegsbeginn. Von 300’000 Teilnehmern sprechen die Organisatoren. Im ganzen Land sollen es insgesamt eine halbe Million Menschen gewesen sein. Von allen Seiten ziehen sie in Tel Aviv zum Begin-Gate, einem der grossen Eingangstore zur Kirija, Hauptquartier der Armee und Sitz des Verteidigungsministeriums.
Die Demonstranten wirken noch lauter als sonst bei den wöchentlichen Protesten am Samstagabend, noch wütender, noch entschlossener in ihrer Verzweiflung. Auffällig viele junge Leute sind diesmal dabei. Fünf der toten Geiseln hatten auf dem Nova-Festival gefeiert, als sie der Hamas in die Hände fielen. Alle sechs sind jung gestorben, zwischen 23 und 40 Jahre alt.
Sechs Särge aus Sperrholz, bedeckt mit israelischen Fahnen, stehen symbolisch auf der Bühne, von der aus die Redner der Regierung die Schuld daran geben, dass sie nicht lebend nach Hause geholt wurden. Gewiss, entführt und kaltblütig aus kurzer Distanz erschossen worden waren sie von den Terroristen der Hamas. Aber im Stich gelassen hatte sie, so glauben hier alle, die eigene Führung – und das gleich zweifach: am 7. Oktober beim Überfall und danach elf Monate lang bis heute.
Gegen den Grundkonsens, niemanden zurückzulassen
«Die Regierung verrät dich und verkauft dich», rufen die Demonstranten in Sprechchören, «Netanyahu lässt keinen am Leben.» Verraten und verkauft fühlen sie sich, weil die Regierung von Beginn an behauptet hat, nur militärischer Druck könne zur Freilassung der Geiseln führen. Die sechs Toten aus dem Rafah-Tunnel entlarven das wohl endgültig als Lüge. «Der Druck der Armee bringt die Entführten um», skandiert die Menge vor den aufgestellten Särgen.
Als Verrat aber wird dies nicht nur an den Geiseln empfunden, sondern ganz fundamental auch an den Werten der Nation. Konkret: an jenem israelischen Grundkonsens, dass niemand zurückgelassen wird und jeder sich auf Rettung verlassen kann, egal, wie hoch der Preis ist. Gewerkschaftschef Bar-David, der am Sonntagabend auch vor der Protestmenge spricht, bringt das auf den Punkt: «Unser geliebtes Land ist ein Land geworden, das im Stich lässt», ruft er. «Das ist undenkbar, und wir sehen den Schaden überall.»
Ob sich Netanyahu von den Protesten und vom Generalstreik beeindrucken lässt, wird sich noch zeigen müssen. Die ersten Reaktionen deuten noch nicht auf eine Kursänderung hin, zumindest nicht in der Frage eines Rückzugs der israelischen Truppen aus dem sogenannten Philadelphi-Korridor. Das ist derzeit einer der Hauptstreitpunkte in den Verhandlungen über ein Abkommen, und Netanyahu wird hier selbst vom eigenen Sicherheitsapparat zur Flexibilität gedrängt. Er aber verweigerte das gemäss Medienberichten seinen Ministern gegenüber auch jetzt noch mit dem Argument, dies wäre «eine gefährliche Botschaft an die Hamas, dass sich die Ermordung von Geiseln auszahlt».
Gegen den Generalstreik ist die Regierung gerichtlich vorgegangen – und erreichte kurzfristig, dass der Ausstand nicht wie geplant 24 Stunden dauerte, sondern per Eilentscheidung am Montagmittag schon um 14.30 Uhr offiziell beendet werden musste. Der Streit aber wird weitergehen, der Krieg sowieso. An den äusseren Fronten demonstriert Israel seine Stärke. Im Innern aber wird die Spaltung tiefer.
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