Wohin mit Binnenflüchtlingen in Rafah?Ägypten bereitet sich offenbar auf Ansturm von Gaza-Flüchtlingen vor
In der Wüste südlich von Gaza entsteht gemäss Medien ein riesiges Auffanglager, umgeben von hohen Betonmauern – Ägypten dementiert.
Der «totale Sieg», so Benjamin Netanyahu, sei in greifbarer Nähe. Das sagte Israels Premierminister in der am Sonntag ausgestrahlten Sendung «Face the Nation» des amerikanischen TV-Senders CBS. Er bezog sich dabei auf den Krieg gegen die Hamas, den Israel seit dem Massaker vom 7. Oktober vergangenen Jahres gegen die islamistische Terrororganisation führt. Und der jetzt auch im Süden des Gazastreifens, in und um die Stadt Rafah, geführt werden soll. Also in jener Stadt, die für die meisten der 1,7 Millionen Binnenflüchtlinge in Gaza der letzte Rückzugsort war (lesen Sie hier einen Artikel über die humanitäre Situation in Rafah).
Das Militär hat dem Kriegskabinett «einen Plan für die Evakuierung der Bevölkerung aus den Kampfgebieten im Gazastreifen und den kommenden Einsatzplan vorgelegt», wie das Büro des Ministerpräsidenten in der Nacht zum Montag bestätigte. Zudem sei ein Plan für die Bereitstellung humanitärer Hilfe gebilligt worden. Es gebe keine Uneinigkeit zwischen ihm und den USA in der Frage, dass eine Evakuierung der Bevölkerung nötig sei, so Netanyahu in der Sendung «Face the Nation». Im Norden, wo Israels Militär seine Kämpfe abgeschlossen habe, sei Platz für die Flüchtlinge. Einzelheiten darüber, wie die Evakuierung aussehen könnte oder wohin genau die Menschen flüchten könnten, nannte er allerdings nicht.
Ägypten erklärt, es werde seine Grenze nicht öffnen
Israels Armee hat das Ziel, die Hamas handlungsunfähig zu machen. In weiten Teilen des Gazastreifens hat sie dieses Ziel nach eigenen Angaben erreicht, nur in Rafah im Süden haben die Terroristen noch Rückzugsorte. Allerdings leben dort auch mehr als eine Million Binnenflüchtlinge unter schlimmsten Bedingungen auf engstem Raum.
Der am nächsten gelegene Zufluchtsort wäre die ägyptische Sinaihalbinsel, auf der anderen Seite der Grenze. Nur: Seit Beginn des Kriegs hat Ägypten immer wieder erklärt, dass es seine Grenze nicht für Flüchtlinge öffnen werde. Zum einen, weil man nicht den Eindruck erwecken wollte, an einer erneuten Vertreibung von Palästinensern mitschuldig zu sein, zum anderen aus wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Gründen.
Auch deshalb überrascht, was seit einigen Tagen auf der ägyptischen Seite der Grenze geschieht: Offenbar bereitet sich Ägypten darauf vor, dass eine grössere Zahl Flüchtender aus Gaza ins Land kommt, und baut in der Wüste ein Auffanglager umgeben von hohen Betonmauern. Das zumindest berichtet das «Wall Street Journal» unter Berufung auf ägyptische Beamte und Sicherheitsanalysten. Demnach könnten dort mehr als 100’000 Menschen untergebracht werden.
Auffanglager oder Logistikzentrum?
Der Leiter des staatlichen ägyptischen Informationsdienstes, Diaa Rashwan, dementierte diesen Bericht aber und sagte, man richte hier lediglich ein Logistikzentrum für Hilfsgüter ein. Der Gouverneur der Region Nordsinai, Muhammad Abdulfadil, veröffentlichte ein Statement, wonach auf dem Areal Parkplätze für die Lastwagen, Lagerhallen und Übernachtungsmöglichkeiten für die Fahrer entstehen sollen – auch, um die Stauungen auf den Strassen nahe der Grenze künftig zu verhindern.
Die Fläche entsteht etwas südlich des wichtigsten Grenzübergangs zwischen Gaza und Ägypten und ist etwa 20 Quadratkilometer gross. Das entspricht in etwa der Fläche von 2800 Fussballfeldern.
Auf einem Satellitenbild sieht man, dass in dem Gebiet grössere Flächen eingeebnet wurden. Elf Tage zuvor waren Teile dieser Fläche noch unberührt. Entlang einer von Norden nach Süden verlaufenden Strasse sind bereits viele fertige Abschnitte einer hohen Betonmauer zu sehen, Kräne reihen dort die Mauerteile aneinander.
Gut zu erkennen ist auf dem Satellitenbild auch die lange LKW-Schlange, die sich vor dem Grenzübergang zu Gaza staut. Auch an einem Kreisverkehr parkieren Hunderte Lastwagen. Womöglich enthalten sie weiteres Material für das zukünftige Lager – das «Wall Street Journal» berichtete unter Berufung auf ägyptische Offizielle, dass bereits grosse Mengen an Zelten geliefert worden seien.
Womöglich befinden sich in den Lastwagen aber auch Hilfslieferungen für den Gazastreifen. Laut «Wall Street Journal» bestätigten ägyptische Beamte vergangene Woche zwar, dass Ägypten ein Auffanglager baue und sich damit auf grössere Flüchtlingsbewegungen aus dem Gazastreifen vorbereite. Auch die in London ansässige Sinai Foundation for Human Rights, die vor Ort recherchierte, sprach in einem Bericht davon, der Zweck der Bauarbeiten sei ein Auffanglager für Flüchtlinge aus Gaza.
Israel sagt, es wolle die Palästinenser nicht vertreiben
Dem gegenüber steht das Dementi von Diaa Rashwan. Ägypten lehne jegliche Vertreibung von Palästinensern aus ihren Gebieten ab, insbesondere nach Ägypten, so der Leiter des staatlichen Informationsdienstes. Sie würde eine «direkte Bedrohung der ägyptischen Souveränität und Sicherheit» bedeuten und sei für Ägypten eine «rote Linie».
Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant sagte, Israel habe nicht vor, Palästinenser nach Ägypten zu vertreiben: «Wir respektieren und schätzen unser Friedensabkommen mit Ägypten, das einen Eckpfeiler der Stabilität in der Region und einen wichtigen Partner darstellt.»
Dass es zur Offensive in Rafah kommt, ist indes nur eine Frage der Zeit. Sollte es angesichts der parallel laufenden Verhandlungen zunächst zu einer Feuerpause kommen, «wird es sich etwas verzögern», sagte Premier Netanyahu in der CBS-Sendung. «Aber es wird geschehen. Wenn wir keine Einigung haben, werden wir es trotzdem tun», sagte er. «Es muss getan werden.»
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