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Meinung

Kommentar zu NS-Prozessen
Das Urteil gegen die KZ-Helferin kam gerade noch rechtzeitig

FILE - Irmgard Furchner, accused of being part of the apparatus that helped the Nazis' Stutthof concentration camp function, appears in court for the verdict in her trial in Itzehoe, Germany, Dec. 20, 2022. (Christian Charisius/Pool Photo via AP, File)
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Zwei Jahre Bewährungsstrafe für Irmgard F.: Der deutsche Bundesgerichtshof (BGH) in Leipzig hat die ehemalige Sekretärin des Konzentrationslagers Stutthof am Dienstag der x-tausendfachen Beihilfe zu Mord und versuchtem Mord für schuldig befunden. Mit diesem Urteil geht die juristische Aufarbeitung des organisierten Massenmords der Nationalsozialisten in Deutschland zu Ende. Selbst wenn doch noch ein allerletzter Prozess zustande käme: Was der Bundesgerichtshof (BGH) zu Schuld und Verantwortlichkeit der KZ-Helfer sagen konnte, ist gesagt. Das letzte Kapitel ist abgeschlossen – es war das wichtigste Kapitel überhaupt.

Das gilt zuallererst für den BGH selbst. Die späten Prozesse gegen Wachleute und andere KZ-Bedienstete gaben ihm Gelegenheit, sein eigenes Versagen zu korrigieren. Es war der BGH des Jahres 1969, der mit seinem Auschwitz-Urteil Anklagen gegen das Personal der Tötungsmaschinerie erheblich erschwert hatte – und den ohnehin unwilligen Staatsanwaltschaften jener Zeit Argumente lieferte, Ermittlungen reihenweise einzustellen. Nur die «konkrete» Förderung klar umrissener Mordtaten sollte strafbar sein, ein Nachweis, der im tausendfachen Massenmord kaum zu erbringen war. Der BGH verschärfte damit die Anforderungen an eine Strafbarkeit wegen Beihilfe zum Mord; Regeln übrigens, die er wenige Jahre zuvor noch selbst für richtig gehalten hatte. Damit schob das Gericht, vermutlich absichtsvoll, der Strafverfolgung der KZ-Helfer einen Riegel vor.

Mehr als eine juristische Läuterung

Dass der BGH in den Urteilen gegen Oskar Gröning im Jahr 2016 und nun gegen Irmgard F. diese skandalöse Rechtsprechung revidiert hat, ist weit mehr als eine juristische Läuterung. Ohne diese überfällige Korrektur hätte die deutsche Justiz künftigen Generationen die Botschaft hinterlassen, dass es strafrechtlich schon in Ordnung war, in einem Betrieb mitzuarbeiten, dessen einziger Zweck in der massenhaften Tötung von Menschen bestand. Gewiss, die Erkenntnis kam spät. Aber sie kam gerade noch rechtzeitig, um in der Historie nicht als eine Justiz dazustehen, welche die Schuld am Massenmord mit juristischen Vermeidungsstrategien unsichtbar machen wollte.

Denn schuldig gemacht, das kann man nicht oft genug wiederholen, haben sich auch die sogenannten kleinen Helfer in den Konzentrationslagern. Irmgard F. hat sich, wahrscheinlich bei einer Werbeveranstaltung mit Tombola und SS-Musikgruppe, für den Job im KZ gewinnen lassen. Als «zuverlässige und gehorsame Untergebene» hat sie in der Lagerkommandantur fast zwei Jahre lang Giftgasbestellungen und todbringende Befehle getippt, obwohl sie die Todgeweihten auf dem Weg zur Gaskammer sehen und den Qualm ihrer verbrannten Leichen riechen konnte. Der Massenmord war nicht möglich ohne bürokratische Organisation und ohne den Schriftverkehr, der das Töten ordnete und vorantrieb. Irmgard F. arbeitete dort, wo sich das verbrecherische System der Nazis manifestierte wie nirgends sonst, in einer Tötungsfabrik. Sie hätte dazu Nein sagen können, sie hätte Nein sagen müssen. Sie hat Ja gesagt.

Es gibt keine Gleichheit im Unrecht

Bleibt die oft zu hörende Frage, ob es nicht irgendwie «ungerecht» sei, untergeordnete Wachleute und Sekretärinnen am Ende ihres Lebens zu bestrafen, während viele Täter aus höheren Rängen in den vergangenen Jahrzehnten ungestraft davongekommen sind. Doch die Frage ist falsch gestellt. Ja, es bleibt ein nicht zu rechtfertigendes Versäumnis, dass die rechtliche Antwort auf den Massenmord in den Nachkriegsjahrzehnten zu viele Täter verschont hat. Aber lässt sich ein Fehler dadurch kompensieren, dass man ihn wiederholt? Wer in einem KZ Dienst getan hat, der hat sich individuell schuldig gemacht, unabhängig davon, ob andere Schuldige bestraft wurden oder nicht. Niemand kann sich darauf berufen, das Versagen der Justiz solle doch bitte zu seinen Gunsten fortgesetzt werden. Es gibt keine Gleichheit im Unrecht.

Die späten Prozesse gegen die KZ-Helfer waren aber auch aus einem weiteren Grund von kaum zu überschätzender Bedeutung. In den Verhandlungen kamen die Überlebenden zu Wort, die den Gerichten als Zeugen schildern konnten, was sie erlebt und wie sie überlebt haben. Das sind Menschen, die in all den Jahrzehnten seit dem Ende des Kriegs nie die Bilder der Leichen losgeworden sind, den Schmerz des Hungers, den Gestank aus den Schornsteinen. Dass sie am Ende ihres Lebens vor den Gerichten der deutschen Justiz erzählen durften, was ihnen in deutschen Lagern widerfahren ist – darin liegt auch eine Anerkennung ihrer Leiden. Denn ein Gerichtsurteil ist etwas ganz anderes als eine Fernsehdokumentation. Gerichte liefern eine verbindliche Feststellung der Wahrheit.