Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Zweiter Weltkrieg und 2024
In Oradour beging die SS ihr grösstes Massaker. Heute warnt eine Frau hier vor den Rechten

Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

In der Hauptstrasse führen die Trambahnschienen ins Nichts, an einigen Überresten der Häuserfassaden hängen noch Schilder: «Garage», Autowerkstatt, oder «Boulangerie», Bäckerei. Verrostete Teile eines Autos liegen auf den Wegen.

In Oradour-sur-Glane, so heisst der Ort, wohnen heute keine Menschen mehr. Und dennoch kennen ihn die meisten Französinnen und Franzosen, haben Fotos der Ruinen im Geschichtsunterricht gesehen oder sind selbst schon dort gewesen. Erkennen die Ruinen im Fernsehen oder auf Social Media, wenn der französische Präsident dort bei Gedenkveranstaltungen seine Ansprache hält.

Oradour, ein Ort in Frankreichs kollektivem Gedächtnis

In anderen Ländern hingegen hat sich Oradour nicht ins kollektive Gedächtnis eingebrannt, viele Menschen haben wohl noch nie von dem kleinen Ort 200 Kilometer nordöstlich von Bordeaux gehört. Und das, obwohl dort das grösste in Westeuropa verübte Massaker während des Zweiten Weltkriegs stattgefunden hat. Fast alle Einwohnenden wurden damals von der deutschen Waffen-SS erschossen oder lebendig verbrannt. Am Abend des 10. Juni 1944 sind 643 Menschen ermordet worden.

Agathe Hébras ist die Enkeltochter des letzten Überlebenden, Robert Hébras. Sie überquert einen grossen Platz und schlägt in eine Gasse ein, die Sonne scheint ihr ins Gesicht. «Damals war das Wetter genau so, hat mein Grossvater erzählt», sagt die 30-Jährige. Vor einem grossen Loch in einer der Mauern bleibt sie stehen. «Das war die Scheune», sagt sie und zeigt auf den grünen Innenhof. Man erkennt sie fast nicht mehr, nur Grundmauern stehen noch. Wäre es nach der SS gegangen, wäre ihr Grossvater genau hier ermordet worden. Er war damals 18 Jahre alt. Er starb vergangenes Jahr im Alter von 97 Jahren.

Als er noch lebte, traten sie bei öffentlichen Veranstaltungen zusammen auf, gaben Interviews. Jetzt trägt seine Enkelin seine Erinnerung allein weiter, auch vor Schulklassen, versucht den Jüngeren zu vermitteln, was Krieg bedeuten kann. Warum es so wichtig ist, extremen Ideologien zu widerstehen. Gerade hat sie einen Comic über Oradour herausgebracht.

Mit einem Comic gegen das Vergessen: «Der letzte Zeuge von Oradour-sur-Glane».

Im Frühjahr 1944 zieht die SS-Division «Das Reich» mordend und brandschatzend durch Zentralfrankreich. Sie wollen Exempel statuieren in dieser Region, in der die Résistance besonders aktiv ist. Der französische Widerstand hat mit einer Sabotageaktion verhindert, dass die berüchtigte SS-Divsion umgehend nach der Invasion der Alliierten in die Normandie am 6. Juni verlegt werden konnte. In vielen Städten begehen die SS-Soldaten Kriegsverbrechen, erschiessen und hängen wahllos Unschuldige, verschleppen Hunderte Menschen und deportieren sie in Konzentrationslager in Deutschland.

Männer erschossen, Frauen und Kinder verbrannt

Am frühen Nachmittag des 10. Juni 1944 erreicht eine Einheit der Division Oradour. Ein kleines Dorf im Limousin, einer Region ziemlich in der Mitte Frankreichs. Der Krieg war weit weg, mit der Résistance hatte man hier eigentlich nichts zu tun. «Anfangs hat keiner etwas geahnt», erzählt Agathe. «Mein Grossvater hat noch seine kleine Schwester in den Arm genommen und sie beruhigt.» Die Soldaten treiben die Bewohner im Dorfzentrum zusammen, teilen sie auf. Frauen und Kinder werden zur Kirche gebracht, die Männer in Scheunen.

Robert und Agathe Hébras wohnen nicht mehr in Obradour, und auch sonst steht das Dorf heute leer.

In der «Grange Laudy», der Scheune, in der sich Robert Hébras befand, befiehlt die SS allen Männern, sich hinzustellen. Die Soldaten schiessen mit ihren Maschinengewehren in die Menge. Robert Hébras wird getroffen, am Arm, am Oberschenkel und an der Brust. Er sackt zusammen und stellt sich tot. «Mein Grossvater erzählte mir, dass einer seiner Freunde auf seinem Bein lag. Einer der Soldaten sei gekommen und habe diesem noch in den Kopf geschossen. Er spürte ihn auf sich sterben.» Als die Soldaten Feuer legen, schafft er es, zu fliehen.

Die Frauen und Kinder werden in der Kirche lebendig verbrannt, teilweise erschossen. Robert Hébras verliert dabei seine Mutter und seine beiden Schwestern, 9 und 22 Jahre alt. Fast ein ganzes Dorf liegt von einem Tag auf den anderen auf seinem eigenen Friedhof.

«Lerne Deutsch. Du wirst nach Deutschland gehen»

Heute ist Oradour ein Mahnmal für die Grausamkeit des Krieges. Agathe Hébras kennt die Ruinen genau, schon als Kind nahm ihr Grossvater sie mit hierher. Er erzählte vom Leben, bevor die Deutschen kamen. Damals habe er ihr gesagt: «Lerne Deutsch. Du wirst nach Deutschland gehen und dort mit den Menschen sprechen.» Das sei einer seiner Schlüssel für Frieden gewesen, erzählt sie, während sie vor der Kirche steht, in der viele ihrer Familienmitglieder von Deutschen ermordet wurden.

FILE - In this Jan. 1, 1953 b/w file picture, an aerial view of  the destroyed Oradour-sur-Glane,  in France is visible . German authorities have charged an 88-year-old former member of an SS armored division with 25 counts of murder for allegedly taking part in the largest massacre in Nazi-occupied France. The Cologne state court said Wednesday Jan. 8, 2014 that Werner C., whose last name wasn't given in accordance with German privacy laws, was also charged with hundreds of counts of accessory to murder in connection with the slaughter in Oradour-sur-Glane, 25 kilometers (15 miles) northwest of Limoges, in 1944. In total 642 men, women and children were killed in reprisal for the French Resistance's kidnapping of a German soldier. (AP Photo,File)

«Meine Klassenkameraden meinten damals, dass ich das nicht machen könne. Doch mein Grossvater wollte, dass diese beiden Völker etwas anderes verbindet als diese Grausamkeiten.» Er sagte schon damals, «Nie wieder Oradour» könne nur durch Erinnerungsarbeit funktionieren. Ab den 1980er-Jahren fuhr Robert Hébras regelmässig nach Deutschland, sprach mit dem früheren Bundeskanzler Willy Brandt, empfing 2013 den damaligen deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck in Oradour. Auch Emmanuel Macron kam, Frankreichs Präsident.

Oradour sei lange etwas für «Intellektuelle» gewesen, sagt Agathe Hébras. Interviews für Kultursender oder grosse Zeitungen seien zwar wichtig, aber die Menschen ihrer Generation erreiche man anders. Der Comic über die Geschichte ihres Grossvaters ist dabei nur ein Teil.

Ein französisches Symbol: Präsident Emmanuel Macron kam, und auch sein Vorgänger François Hollande besuchte Oradour.

Über Social Media und Podcasts versucht sie, junge Menschen dazu zu bewegen, aus dem Massaker zu lernen. Vor ein paar Jahren hat sie einen der bekanntesten französischen Youtuber, Thibaud Delapart Mazăre, online bekannt als Tibo Inshape, nach Oradour eingeladen. Das Video, in dem Thibaud mit Robert Hébras spricht und viel historischen Kontext liefert, wurde 2,6 Millionen Mal geklickt.

Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.

An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.

Denn auch heute, 80 Jahre danach, bleibe alles um Oradour-sur-Glane aktuell, sagt Agathe Hébras. «Das Erstarken extremer Parteien in Europa lässt bei uns die Alarmglocken schrillen.» Ihr Grossvater habe immer gesagt, dass man aufpassen müsse: «Menschen können schlimme Dinge anrichten. Totalitäre Regimes sind noch nicht ausgestorben.» Als ihr Grossvater noch gelebt und gesehen habe, was vor zwei Jahren bei dem Massaker im ukrainischen Butscha, einem Vorort von Kiew, passiert sei, habe er gesagt: «Das ist wie Oradour!»