Interview über Pregabalin-MissbrauchAngstblocker in der Schweiz auf dem Vormarsch – Psychiater warnt
In der Schweiz konsumierten Asylsuchende und Häftlinge Pregabalin in viel zu hohen Dosen, sagt Jochen Mutschler. Beim Entzug drohe ein hohes Mass an Aggressivität.
Herr Mutschler, der Verbrauch des Schmerzmittels Pregabalin hat in Europa in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Ist dies gefährlich?
Pregabalin ist ein sehr weit verbreiteter Wirkstoff, der normalerweise bei korrekter Anwendung keine Probleme macht. Allein in der Schweiz haben die Apotheken im Jahr 2022 mehr als eine halbe Million Verpackungen verkauft, was im Vergleich zu 2015 eine enorme Zunahme von mehr als einem Drittel bedeutet. Verschrieben wird das Medikament Lyrica zur Behandlung von Epilepsie, krankhaften Angstzuständen und bestimmten Nervenschmerzen. Doch insbesondere beim Missbrauch des Medikaments kann es zu starken Nebenwirkungen kommen und vor allem auch abhängig machen.
In England gab es von 2004 bis 2020 gemäss der Fachzeitschrift BJCP über 2300 Todesfälle in Zusammenhang mit Pregabalin. Ist das nicht erschreckend viel?
Ja, das ist es. Doch Pregabalin führt selten allein zum Tod, sondern wird häufig gleichzeitig mit noch anderen Medikamenten oder Drogen eingenommen. Gemäss der britischen Studie konnten bei 92 Prozent der untersuchten Fälle auch noch Opioide wie etwa Fentanyl festgestellt werden, was das Risiko einer tödlichen Überdosierung erhöhen kann. Vor allem Suchtkranke oder ehemalige Drogenabhängige können die Einnahme des Medikaments oft nicht mehr kontrollieren und erhöhen eigenmächtig die Dosis oder kombinieren es mit anderen Betäubungsmitteln. Denn Pregabalin sorgt für ein gutes Gefühl im Kopf und macht euphorisch.
Einer Studie aus Belgien zufolge sind vom Pregabalin-Missbrauch insbesondere Asylsuchende aus nordafrikanischen Ländern stark betroffen, die versuchen, durch das Medikament ihre traumatischen Erlebnisse während der Flucht zu bewältigen. Ist dies in der Schweiz ähnlich?
Ich vermute, dass auch bei uns Pregabalin in Bundesasylzentren ein riesiges Problem ist. Einigen Geflüchteten wird es aus medizinischen Gründen verschrieben, andere besorgen es sich irgendwo illegal. Das Problem ist, dass die meisten von ihnen den Wirkstoff viel zu hoch dosieren. Zum Teil wird pro Tag mehr als das Zehnfache der zugelassenen Menge geschluckt. Dieser verdeckte Konsum ist extrem, und die Abhängigkeit wird dadurch immer grösser. Anders als Cannabis oder andere Drogen wie Kokain ist der Besitz von Pregabalin in den Schweizer Asylzentren nicht verboten. Hinzu kommt, dass in den nordafrikanischen Herkunftsländern Pregabalin, aber auch Benzodiazepine sehr einfach ohne Rezept verfügbar sind.
Das Medikament Lyrica wirkt angstlösend, beruhigend und macht zufrieden. Doch was passiert beim Entzug?
Dann kommt es häufig zu massiven Nebenwirkungen wie Zittern, Schwitzen, epileptischen Anfällen, Frieren, Depressionen, Selbstverletzungen und vor allem zu einer hohen Aggressivität. Das kann dazu führen, dass zum Beispiel die oft sehr jungen Männer den Kopf gegen die Wand schlagen oder den Raum demolieren. Das Gewaltpotenzial durch den schnellen Entzug ist in der Regel besonders hoch.
Lässt sich der Konsum von Pregabalin mit der «Oxycontin-Epidemie» in den USA vergleichen?
Vielleicht nicht in dem gleichen Ausmass. Doch es gibt Parallelen. So haben wir mit Pregabalin einen Wirkstoff, der erst einmal primär ärztlich aufgrund von medizinischen Beschwerden verschrieben wird, was aber im Verlauf der Zeit zu einer Abhängigkeit oder einem Missbrauch der Substanz führen kann. Einen der weltweit ersten Fälle mit einer solchen starken Abhängigkeit hatte ich damals, 2010, in Deutschland bei einem Patienten miterlebt. Der 47-jährige ehemalige Drogenabhängige war zwar seit Jahren clean. Kein Heroin, kein Alkohol mehr. Doch er bekam aufgrund von Nervenschmerzen eines Tages Pregabalin verschrieben und nahm irgendwann anstatt täglich maximal 600 Milligramm am Schluss 7500 Milligramm. Pfizer musste daraufhin in den Beipackzettel des Medikaments schreiben, dass der Wirkstoff stark abhängig machen kann.
Auch in Gefängnissen und forensischen Kliniken ist Pregabalin ein beliebter Wirkstoff. Ist auch hier der Missbrauch gigantisch?
Er ist tatsächlich sehr gross. Wir haben vor kurzem eine Studie in der Onlinezeitschrift «Frontiers in Public Health» veröffentlicht, bei der wir eine Umfrage im deutschsprachigen Raum gemacht haben. Fast alle Gefängnisärzte und Psychiater von forensischen Kliniken berichteten, dass in letzter Zeit die Nachfrage nach Pregabalin gestiegen sei und viele den Wirkstoff auch ohne eine klare medizinische Indikation haben wollten. Wenn die Konsumenten es nicht mehr in der viel zu hohen Dosis bekommen hätten, sei es zu grosser Unzufriedenheit und auch Aggressivität gekommen. Das ist eine verheerende Entwicklung. Ich hätte nicht gedacht, dass die psychoaktive Substanz auch in Schweizer Gefängnissen so stark verbreitet ist.
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